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Heinrich Lau: Zur Kulturgeschichte des 21. Jahrhunderts

Heinrich Lau

Zur Kulturgeschichte des 21. Jahrhunderts

1. Ausgangslage:


Die derzeitige ökonomische, soziale und politische Situation ist aus meiner Sicht gekennzeichnet von einem Klassenbündnis aus Kapital, Kapitalagenten, Staatsagenten, „selbständigen" Dienstleistern, „selbständigen" Handwerkern und Bauern, Industriearbeiterschaft und Gewerkschaften, somit allen am Produktionsprozeß und in der Steuerung und Verwaltung von Distributions- und Reproduktionsprozeß Tätigen einerseits. Am Produktionsprozeß nicht oder allenfalls im Zuge staatlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, am Distributionsprozeß nur passiv und am Reproduktionsprozeß nur am Rande Beteiligte stehen andererseits diesen durchaus massenhaft gegenüber. Der Klassenantagonismus von Kapital und Arbeit tritt aktuell zurück.1 Ich habe dies in „Prolegomena zu einer kritisch-historischen Rechtstheorie"2 wie folgt weitergeführt:

„Der für Marx nicht vorhersehbare technische Fortschritt führt von der extensiven zur intensiven Nutzung nicht nur der einzelnen Arbeitskraft oder der Arbeitskraft in technologisch besonders fortgeschrittenen Betrieben und Branchen, sondern des gesamten produktiven Arbeitskräftepotentials, zur Selektierung derjenigen, die zum Arbeitsmarkt zugelassen werden, zur verstärkten Repulsion.3 Am Ende steht ein phänomenologisch jedenfalls so wahrnehmbares Staatsproletariat.

Die Staatsintervention im Reproduktionsprozeß nimmt beständig zu und etabliert eine Zwischenschicht von „sozial" tätigen Staatsagenten. Der Reproduktionsprozeß ... wird zum kollektiven Ereignis, um so mehr als er bei den vom Produktionsprozeß ausgegrenzter sozialen Schichten zur Sache staatlicher Verwaltung wird: Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Unterhaltsgeld für - auf Grund staatlicher Maßnahmen - an den Produktionsprozeß heran- oder wieder heranzuführende Betroffene, schließlich Sozialhilfe in ihren vielfältigen Leistungsarten werden verwaltet und verteilt von staatlichen Einrichtungen auf unterschiedlichen Ebenen und mit formal unterschiedlichen und gegenüber den Betroffenen jeweils abgestuften Kontrollmechanismen ... Neu sind die ... sehr starke Zunahme der Empfänger von auf Sozialhilfe gegründeten Leistungen und insbesondere die Leistungsvielfalt, welche gleichzeitig der Sozialverwaltung einen enormen Zuwachs an Macht, an Informationsmöglichkeiten über die Betroffenen und an Kontrollmechanismen vermittelt. ... Zentrales heutiges Problem scheint mir dabei, daß ... im Produktionsprozeß durch eine sehr starke Verlagerung auf die „Produktivkraft Forschung", auf die damit korrelierende Zunahme von Technologien und Effektivierung der Nutzung des konstanten Kapitals eigentlich immer Arbeitskraft freigesetzt wird: In Zeiten des Booms durch Rationalisierungsinvestitionen, in Zeiten des Rückgangs durch Abnahme der Auslastung der tatsächlich beschäftigten Arbeitskräfte. ... Daraus folgt aber auch, daß weite Teile der „industriellen Reservearmee" zum Produktionsprozeß überhaupt keinen Zugang mehr haben, sondern sozusagen von vornherein zu „Nichtkombattanten" werden. ... Gesellschaftlich relevante Randgruppen entstehen (hierbei) ... dann, wenn die Reproduktion des nicht arbeitenden Teils der Bevölkerung institutionell der Tendenz nach vom Produktionsprozeß abgelöst wird und neue Schichten von am Produktionsprozeß nicht oder überwiegend nicht mehr beteiligten Personen gebildet werden, jenseits der „klassischen" Rentner und einzelnen „Vagabunden „ und „Asozialen" ... Das phänomenlogisch so wahrnehmbare Staatsproletariat ist, präziser gefaßt, eine unproduktive soziale Schicht, die aus Kapital- und Arbeiterrevenuen (Sozialversicherungsbeiträgen, Steuern) reproduziert wird und deren Teilnahme am Distributions- und Reproduktionsprozeß, soweit es für diese Schicht außer gelegentlicher Schwarzarbeit und gelegentlicher staatlicher "Umschulung" eben keine Lohnarbeit gibt, staatlich reglementiert ist. Auf der politischen Ebene gilt es für das Bündnis der am Produktionsprozeß beteiligten Klassen und Schichten, soziale Konflikte zu verhindern, die zur Gefährdung der politischen Macht dieses Bündnisses führen."

Der Versuch einer Perfektionierung der staatlichen Kontrolle von am Produktionsprozeß nicht beteiligten Gruppen erscheint meines Erachtens am deutlichsten im Asylverfahrensgesetz und Asylbewerberleistungsgesetz, das dem Sozialhilfeträger beispielsweise die Möglichkeit gibt, anstelle von Geld Warengutscheine oder Lebensmittelpakete usw. zu verteilen, hierdurch den Konsum der Betroffenen zu steuern und gleichzeitig festzustellen, ob die Betroffenen diese Gutscheine auch tatsächlich einlösen, Lebensmittelpakete abholen usw. Flankiert wird dies durch eine minutiöse Erfassung von Personaldaten der Asylbewerber im Ausländer-Zentralregister. Die Perfektionierung setzt mithin bei derjenigen Gruppierung an, die vom Staat bislang für besonders schwach, besonders schlecht organisiert usw. gehalten wurde, obgleich dort inzwischen durchaus Organisation und bewußte Verfolgung sozialer und politischer Ziele stattfindet.

2. Ideologie des Klassenbündnisses und soziale Realität der Randgruppen


Die zum Klassenbündnis passenden Ideologien sind, ebenso wie die soziale Realität der Randgruppen, gekennzeichnet durch Abstraktion vom Produktionsprozeß. Die Klassenbündnisideologien werden meines Erachtens typischerweise geprägt von der „middle class" der tätigen metropolitanen Subjekte (Zirkulations- und Reproduktionsagenten, „sozialtätige" Staatsagenten). Beispielhaft als Ideologie-Figuren sind hier meines Erachtens Postmoderne, „anything goes", „Kommunikationsgesellschaft", Friede, Gleichberechtigung und Umwelt, schließlich die Behauptung, es gebe keine sozialen Schichten mehr, sondern nur noch Lebensstille, wobei dies auch zu einer schwärmerischen Multikulturalität führt, welche die sehr unterschiedlichen, sich auch untereinander sehr stark abgrenzenden Gruppen von in Deutschland lebenden Ausländern unterschiedslos aufnimmt. Dabei bestehen tatsächlich ungeheure Unterschiede bereits zwischen Bosniern und Kosovo-Albanern, zwischen Tamilen und Vietnamesen, sowohl im Verständnis der eigenen politischen Aktivität im Exil als auch in der Wahrnehmung deutscher Zustände, sowohl in der eigenen inneren Organisiertheit als auch in der Außendarstellung dieser Organisiertheit, um nur ein paar Positionen zu nennen.

3. Entvölkerung der Arbeit und Falsifizierung des „realen Sozialismus"


Bei ständig verbesserter Technologie besteht ein stets geringerer Bedarf an menschlicher Arbeitskraft. Wir haben es also mit dem genauen Gegenteil der Marxschen Voraussage der weltweiten proletarischen Revolution zu tun: Nicht die Tatsache, daß die Arbeitsanforderungen an alle nichtkapitalistischen Schichten und Klassen immer höher werden und hieraus ein zunächst soziales Revolutionspotential entsteht, welches dann im Hinblick darauf, daß der Staat als Unterdrückungsmaschine im Reproduktionsprozeß des Kapitals nicht mehr benötigt wird, auch zur politischen Revolution führt, sondern die Tatsache, daß die gesellschaftliche Arbeit ihrer Tendenz nach für eine kleine Zahl von hochqualifizierten Experten und Beratern immer intensiver wird, während alle weitere Arbeit von Maschinen erledigt wird, prägt die ökonomische und soziale Situation der Metropolen. Die vom Produktionsprozeß ausgeschlossenen oder sich hiervon ausschließenden Schichten sind von Marx noch als „Lumpenproletariat" gekennzeichnet worden, dies trifft schon längst nicht mehr zu, gleichwohl besteht nach wie vor Ausgrenzung. Die nicht am Produktionsprozeß beteiligten Schichten sind eben „unten", und bisher war es „innerhalb einer Gesellschaft ... unwahrscheinlich, daß der soziale Wandel die niederste soziale Schicht als Grundlage besitzt."4

Die Entvölkerung der Arbeit findet aber auch global statt. Der Weltkapitalismus war eben stärker als der „reale Sozialismus", die dort geübte künstliche „Bevölkerung der Arbeit" mußte enden. Die Versetzung der „Arbeiterklasse" des realen Sozialismus in einen staatlich kontrollierten Warte- und Ruhestand war dem Weltkapital immer noch billiger als alles andere. In Kauf genommen hat man hier eine massenhafte, bislang noch diffuse Unzufriedenheit bis hin zum „Ausweg" in gesellschaftlich unerwünschte, aber als Reaktion auf die beständige Fernhaltung vom Produktionsprozeß begreifbare, kriminalisierte Selbstorganisation.

4. Utopieproduktion bei scheinbar auswegloser Lage und fehlender revolutionärer Energie


Ich gehe dabei davon aus, daß Utopien verstärkt in Zeiten abnehmender oder nicht vorhandener Klassenkämpfe produziert werden, d. h. in Situationen eines Bündnisses der am Produktionsprozeß beteiligten Klassen, einer strukturellen Schwäche der nicht herrschenden Klassen, wobei die Utopie letztlich auch als Ersatz revolutionärer Aktivitäten oder im Gegenteil als konservative bis reaktionäre Unterstützung der alten herrschenden Feudalklasse und der neu hinzugekommenden bürgerlichen Klasse dient. Im ersteren Fall ist Utopie eine nicht auf politische Realisierung drängende Kritik an vorhandenen sozialen Zuständen, im anderen Fall eine Festschreibung bestehender Machtverhältnisse mit Hinweisen zu deren Perfektionierung. Als Beispiel für den ersten Fall nenne ich Johann Gottfried Schnabels „Insel Felsenburg", als Beispiel für den zweiten Fall den „Sonnenstaat" von Tommaso Campanella. Nicht umsonst findet Schnabels Utopie auf einer kleinen, entlegenen und bisher unbewohnten Insel statt, Campanellas Utopie benötigt hingegen als Schauplatz das gesamte Weltall. Bei Schnabel geht es um Entdeckung von Nischen, um aus herrschenden menschenunwürdigen Verhältnissen herauszukommen, bei Campanella um die Universalisierung und Verewigung vorhandener Machtstrukturen. Daß in Rußland, vor den Revolutionen von 1905 und 1917, beachtliche utopische Entwürfe vorlagen, mag andererseits damit zu tun haben, daß Rußland eben doch das schwächste Glied des Weltkapitalismus war, so daß gleichzeitig Aktivitäten auf mehreren Ebenen möglich waren. Die politischen Utopien des frühen Christentums hingegen sind aus meiner Sicht verstehbar als Auflehnung alter, vom römischen Reich als universaler Realisierung der Sklavenhaltergesellschaft beherrschter Kulturvölker, die politisch eben keine Chance hatten, sich gegen das mächtige „Römische Reich" durchzusetzen. Diese Utopien sind außerordentlich militant und setzen eine unduldsame Zerstörung aller nicht im Sinn der Utopisten Denkenden und Handelnden voraus: Christus sagt im Matthäus-Evangelium5 : „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu senden auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert", und in der Apokalypse bedarf es ungeheurer Zerstörungen, Folterungen und Massentötungen, bis der Prophet mit Blick auf die neue Welt sagen kann: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde ... und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; das Erste (die erste, von Sünden geschüttelte und jetzt zerstörte Welt) ist vergangen."6

5. Entwurf des 21. Jahrhunderts: Anleitung der metropolitanen Randgruppen zum Rückbau der Technik, Raubzug der Peripherievölker durch die Metropolen, Ende der Geschichte oder was sonst?


Ein „postkapitalistischer" Fortschritt außerhalb der sozialistischen Revolution - die sicherlich nicht mehr stattfinden wird - ist noch nicht erkennbar. Er kann von den am Produktionsprozeß beteiligten Klassen und Schichten auch nicht erwartet werden: Das Kapital hat ein Interesse an möglichst hoher, durch Technologie bedingter Effektivität, die im Produktionsprozeß verbliebenen Arbeiter passen sich der fortschreitenden Technisierung an. Die gewaltige Zunahme der nicht am Produktionsprozeß beteiligten - metropolitanen oder aus der Peripherie zugewanderten Randgruppen bringt bislang noch kein Umschlagen von Quantität zu Qualität. Bestimmend für das Bewußtsein der metropolitanen Randgruppen ist aber bislang noch einerseits eine sehr effektive staatliche Kontrolle und eine erhebliche Akzeptanz derselben, andererseits hieraus hervorgehend - die Illusion, daß das materielle Leben „irgendwie" gesichert sei und keine wesentlichen Verschlechterungen eintreten werden: Besuche von Gerichtsvollzieher, Jugendamt, Sozialarbeiter, sozialpsychiatrischem Dienst werden achselzuckend hingenommen, Obdachlosenunterkünfte und Knäste „irgendwie" überstanden, Psychiatrien, denen ganz klar die Labels der äußersten Isolation und äußersten Sprachlosigkeit anhängen, müssen „irgendwie" gemieden werden. Herauskommen aus dieser Depotenzierung können metropolitane Randgruppen lediglich durch eine Neuorganisation der gesellschaftlichen Arbeit, also einen Rückbau von Technik. Dieser - und die Anleitung der metropolitanen Randgruppen hierzu - muß auf zahlreichen verschiedenen Ebenen realisiert werden: Selbstorganisation aller „oppositionellen" Denker, Schreiber, Berater; Bewußtmachung der Deklassierung der Randgruppen als Objekt ökonomische; sozialer und politischer Prozesse und Auflehnung hiergegen; Bewußtmachung, daß nur durch Rückbau der Technik und Verzicht auf global zerstörende Technologien ein Überleben der Weltbevölkerung überhaupt möglich ist. Geschieht dies nicht, wächst eben das Risiko der Realisierung von „technokratischen" Utopien: einerseits eine saubere, gleichgeschaltete, mit „Bürgergeld" versorgte und vom Produktionsprozeß


Anmerkungen


1 Wobei die Freiheit und Gleichheit aller als ideologisches Element unvermittelt neben der sozialen und ökonomischen Realität steht.

2 Heinrich Lau: Prolegomena zu einer kritisch-historischen Rechtstheorie, Egelsbach 1995, S. 37 ff.

3 Hierzu Nicos Poulantzas: Die Internationalisierung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und der Nationalstaat, Berlin 1973, S. 27

4 Rolf Schwendter: Theorie der Subkultur, 4. Aufl. Hamburg 1993, S. 291 mit Hinweis auf Berelson/Steiner: Human Behaviour. An Inventory of Scintific Findings, Chicago 1964

5 Matthäus 10, 34

6 Offenbarung 21, 1; Offenbarung 21, 4.






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