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Heilige Mésalliance

Monique de Saint Martin kennt den französischen Adel




Die Geschichte des Adels ist die Geschichte seiner immerwährenden Erfindung, der permanenten Konstruktion von Adeligkeit, der stets neuen Begründung von sozialer und kultureller Distanz. Es zählt zu den großen Erfolgen des Adels in den europäischen Gesellschaften, dass er über Jahrhunderte die Kraft und die Fähigkeit besaß, gesellschaftlich, kulturell und sehr lange auch politisch „oben zu bleiben“, wie es Werner Sombart einmal genannt hat. Aber es ist nicht nur der Adel selbst, der sich immer wieder erfindet. Adel wäre nicht möglich ohne den Glauben an die Existenz von Adel in der ihn umgebenden Gesellschaft. Und das gilt umso mehr, je weniger adelige Privilegien, je weniger die adelige Herausgehobenheit durch die politische und rechtliche Verfasstheit eines Gemeinwesens, durch die Monarchie, durch Feudalstrukturen, durch ständische Ordnungsprinzipien, installiert und stabilisiert wird.

Wer sich als Historiker oder Soziologe der Welt des Adels nähern will, darf sich deshalb nicht auf prosopographische Studien oder statistische Auswertungen der nationalen „Gothas“ beschränken. Er muss sich interessieren für adelige Kultur, die Inszenierung von Adel und die Repräsentation adeliger Lebenswelten. Die jüngere französische Kultursoziologie, maßgeblich geprägt durch Pierre Bourdieu, hält für solche Untersuchungen vielfältige Anregungen bereit, und es verwundert kaum, dass man sich in Bourdieus Umfeld mit dem Konzept des Habitus, dem Begriff des Feldes oder der Kategorie des Kapitals nicht nur mit kabylischen Bauern oder der Landbevölkerung des Béarn beschäftigte, sondern immer wieder auch mit dem Adel. Vor zehn Jahren schon hat eine enge Mitarbeiterin Bourdieus, Monique de Saint Martin, eine soziologische Studie zum französischen Adel vorgelegt, die nun auch auf Deutsch erhältlich ist.

Die Übersetzung demonstriert ein auch in Deutschland, in der Geschichte, in den Sozial- und Kulturwissenschaften, gestiegenes Interesse am Adel. Das hat zu tun mit dem „cultural turn“, der kulturalistischen Wende in diesen Wissenschaften, dem neuen oder wieder erwachten Interesse an symbolischer Repräsentation, an der Konstruktion von Lebenswelten oder der Visualisierung von Strukturen sozialer und sozialkultureller Differenz und Distanz. Es hat auch zu tun mit einem in Deutschland wieder zunehmenden und gesellschaftlich nicht länger tabuisierten Interesse an Eliten, an ihrer Rekrutierung, ihrer Komposition, ihrem Wandel in Geschichte und Gegenwart. Und es hat schließlich zu tun mit einem gewachsenen Bewusstsein für die europäische Bedeutung von Adel. Denn bei der Suche nach übernationalen und gemeineuropäischen Traditionsbeständen tritt immer deutlicher zu Tage, in welchem Maße das Gesicht Europas bis heute von der jahrhundertelangen Herrschaft, ja der Existenz von Adel geprägt ist und wie sehr das Wirken des Adels, insbesondere auch im Sinne kultureller Hegemonie zum gesamteuropäischen Erbe unserer Gegenwart gehört.

Insofern öffnet Monique de Saint Martin Tore nicht nur zur Welt des französischen Adels. In seinen Beobachtungen und Bewertungen reicht das Buch weit über die noblesse française hinaus. Methodisch gestützt auf die Auswertung von Adelsliteratur (Zeitschriften, Memoiren, Romane, Biographien, Genealogien), auf zahlreiche Interviews und auf teilnehmende Beobachtung – für die die Soziologin als Angehörige einer alten französischen Adelsfamilie beste Voraussetzungen mitbrachte –, versucht die Studie in einem ersten Teil, Kernbestände adeliger Identität in Frankreich am Ende des 20. Jahrhunderts auszumachen und diejenigen Faktoren zu benennen, die auch nach dem Ende politischer und rechtlicher Privilegierung dem Adel seinen sozialkulturellen Sonderstatus verschaffen. Es geht um Distanz und Differenz – und dabei nicht ausschließlich um die feinen Unterschiede.

Es geht um soziales und symbolisches Kapital, seinen Einsatz und die Profite, die dieses Kapital erbringt. „Anerkennungsprofite“ ist ein Schlüsselbegriff. Das reicht vom adeligen Namen bis hin zum ländlichen Grundbesitz mit seinen Schlössern oder Herrenhäusern. Zusätzlich verschafft die familiale Vernetzung, im Adel besonders stark ausgeprägt und weit angelegt, Vorteile bei der sozialen Positionierung. Auch darum ist Adel bis heute Familie.

Goldener Generationenpakt


Der zweite Teil des Buches widmet sich dann den Mechanismen der Weitergabe dieses Kapitals von Generation zu Generation, betont die Bedeutung von Sozialisation, Erziehung und Ausbildung, streift – alliances et mésalliances – das Heiratsverhalten und untersucht die Investition von Kapital zur Stabilisierung von Status und Prestige. Stabilisierung bedeutet dabei freilich nicht Statik und Immobilität. Im Gegenteil, Stabilisierung heißt permanente Anpassung an sich verändernde politische, soziale und kulturelle Rahmenbedingungen. Die Stabilisierung von Status und Prestige erfordert unablässig den Tausch und die Umschichtung der verschiedenen Kapitalsorten, die Rekonversion von Kapital.

Die Umwandlung von politischer und ökonomischer Macht in soziales, kulturelles und symbolisches Kapital, welche die Adelsgeschichte mindestens der letzten beiden Jahrhunderte bestimmte, ist, historisch gesehen, ein Generationen übergreifender und eng mit der allgemeinen Geschichte verflochtener Rekonversionsprozess. Wie Rekonversion funktioniert und strategisch betrieben wird, deutet das Buch an einigen Beispielen zwar plastisch-konkret, aber letztlich zu punktuell und individualisierend an.

Und hier liegen dann auch die Grenzen der gewählten Methoden, die es in ihrer starken Einzelfallorientierung kaum erlauben, verallgemeinernde Schlüsse zu ziehen. Unberücksichtigt bleibt in der recht beliebigen Aneinanderreihung von zum Teil anekdotisch präsentierten Einzelbeispielen aus Geschichte und Gegenwart auch die Dimension des historischen Wandels des Adels und seiner Welt. Das ist dem Ziel geschuldet, vor allem die Konstanten adeliger Existenz bis in die Gegenwart hinein herauszupräparieren, und im Übrigen muss man einem soziologischen Buch nicht unbedingt seine Ahistorizität zum Vorwurf machen. Dennoch ist Adel nicht gleich Adel, so sehr Adel noch immer Adel ist. Das nämlich können wir schließlich von Monique de Saint Martin lernen, dass die Geschichte des Adels längst nicht an ihr Ende gelangt ist: nicht in Frankreich und auch nicht in Deutschland, und dass wir durch den Blick auf den Adel gerade auch in der jüngsten Zeitgeschichte sehr viel erfahren können über Gesellschaften im Übergang vom Gestern zum Heute und wohl auch zum Morgen.

ECKART CONZE

MONIQUE DE SAINT MARTIN: Der Adel. Soziologie eines Standes. UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2003. 284 Seiten, 29 Euro.



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