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Saint Simon

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ZWEITER TEIL



2. Ursprünge des Sozialismus: Die Hierarchie Saint-Simons


Das Unternehmen Babeufs erschien wie eine letzte krampfhafte Anstrengung, die die Große Französische Revolution machte, bis zur logischen Konsequenz ihrer Grundsätze vorzudringen. Jene Anhänger der Gleichheitslehre und jene Kollektivisten, wie sie in den ersten Jahren des nächsten Jahrhunderts zur Geltung kamen, gehören, obwohl sie zur gleichen Zeit wie Babeuf geboren wurden, einer anderen Welt an.


Ihr Prototyp ist der Comte de Saint-Simon. Er kam aus einem jüngeren Zweig der Familie des berühmten Herzogs, des Chronisten am Hofe Ludwigs XIV., und obgleich er seinen Titel abgelegt hatte und nicht mehr - wie sein Verwandter - an die gesellschaftliche Bedeutung des Adels glaubte, war er auf seine Weise gleichermaßen von der Bedeutung der besitzenden Klassen überzeugt und insbesondere von der Familie Saint-Simon.


Mit siebzehn Jahren hatte er seinem Kammerdiener befohlen, ihn jeden Morgen mit der Ermahnung zu wecken: »Stehen Sie auf, mon-sieur le comte! Denken Sie daran, daß Sie große Dinge zu vollbringen haben!«, und als er zur Zeit des Terrors in Haft saß, wähnte ihm, sein Vorfahre Karl der Große sei ihm erschienen und habe angekündigt, allein der Familie Saint-Simon sei vorbehalten, einen großen Helden wie auch einen großen Philosophen hervorzubringen, er selbst solle auf geistigem Gebiet die militärischen Leistungen Karls des Großen wiederholen.


Saint-Simon hatte sich abseits von der Revolution gehalten. Er glaubte, daß das alte Regime zum Absterben verurteilt sei, und obgleich er nach Amerika gegangen war, um auf der Seite der Kolonien zu kämpfen, hielt er die Französische Revolution, als sie kam, für einen Prozeß, der, wie er sagte, hauptsächlich destruktiv sei, und er konnte sich nicht überwinden, aktiv daran teilzunehmen. Er spekulierte in beschlagnahmten Ländereien und machte etwas Geld, wurde aber um eine große Summe von einem Partner betrogen. Dann begann er, nachdem Karl der Große ihn über seine Mission ins Bild gesetzt hatte, mit heroischer Naivität, systematisch aus sich einen großen Denker zu machen.


Als erstes kaufte er ein Haus gegenüber dem Polytechnikum und studierte Physik und Mathematik, dann bezog er ein Haus in der Nähe der Medizinischen Fakultät und studierte Medizin. Eine Zeitlang führte er ein Leben der Zerstreuung, wie er sagte, aus moralischer Neugierde. Er heiratete, um einen Salon zu haben. Dann ließ er sich von seiner Frau scheiden, stellte sich der Mme. de Stael vor und erklärte ihr, da sie die bemerkenswerteste Frau und er der bemerkenswerteste Mann ihrer Zeit sei, ergebe sich klar, daß sie zusammenwirken sollten, um ein mehr als bemerkenswertes Kind zu zeugen. Aber Mme. de Stael lachte nur. Er bereiste Deutschland und auch England auf der Suche nach geistiger Anregung, kehrte aber enttäuscht aus beiden Ländern zurück.


Wenn man Berichte über Saint-Simons Leben liest, ist man geneigt, ihn für ein bißchen verrückt zu halten, bis man bemerkt, daß die anderen Sozial-Idealisten dieser Periode Sonderlinge des gleichen extravaganten Typs waren. Die ersten Jahre des neunzehnten Jahrhunderts waren eine höchst verworrene Epoche, in der es noch immer möglich war, einfache Ideen zu haben. Die rationalistische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, auf die die Französische Revolution zurückgegangen war, bildete noch den Hintergrund für das Denken der meisten Menschen (Saint-Simons Erzieher war d'Alem-bert gewesen), aber diese rationalistische Philosophie, von der man die Lösung aller Probleme erwartete, war außerstande gewesen, die Gesellschaft aus dem Despotismus oder aus der Armut zu befreien. Nunmehr waren die Autorität der Kirche und der Zusammenhang des alten sozialen Systems verlorengegangen, und es gab kein Gedankengebäude mehr, das als mehr oder weniger gültig hingenommen worden wäre wie etwa das Werk der Enzyklopädisten (eines der Projekte Saint-Simons war eine Enzyklopädie für das neunzehnte Jahrhundert). Die mechanischen Erfindungen, von denen man erwartete, sie würden das Los der Menschheit in weitem Umfange verbessern, führten offensichtlich viele Menschen ins Elend, aber die aus Handel und Manufaktur erwachsenden Mißstände hatten noch nicht jenen Tiefpunkt erreicht, an dem Philanthropie und Philosophie selbst als überholt, als die unwirksamen Launen einzelner Personen erscheinen sollten. Mithin hatten die Franzosen, der Systeme der Vergangenheit ledig und noch ohne Ahnung von der künftigen Gesellschaft, die Freiheit, irgendein System zu entwickeln, irgendeine Vorstellung von der Zukunft zu entwerfen und auf sie zu hoffen.


Zum katholischen System versuchten manche in einer gemäßigteren und romantischeren Form zurückzukehren. Aber es ist Saint-Simon hoch anzurechnen, daß er zwar als ein Abkömmling Karls des Großen das Mittelalter bewunderte, aber dennoch den geistigen Mut besaß, die nachrevolutionäre Welt, wie er sie vorfand, hinzunehmen und sich in ihre einander widerstreitenden Strömungen zu stürzen, auf der Suche nach Grundsätzen, die sie überschaubar gestalten und eine neue Systematisierung ermöglichen sollten. Als Dilettant von Graden, ruhelos geworden durch universale Neugier, als ein großer Edelmann des alten Regimes, der im neuen Frankreich gestrandet und darauf eingeschworen war, die Verantwortung des Adligen für die neue Menschheit in ihrer Gesamtheit zu übernehmen, war er - mit einer Reihe schriftstellerischer Arbeiten, die 1802 mit den >Briefen eines Genfers< begannen — in der Lage, gewisse grundlegende Elemente der Gegenwart und Entwicklungstendenzen der Gesellschaft der Zukunft zu verstehen und anzuzeigen, die für die professionellen Gelehrten unsichtbar waren.


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Das achtzehnte Jahrhundert habe, so sagte Saint-Simon, einen grundlegenden Irrtum begangen: in der Annahme, daß die Menschen einerseits mit unbeschränkter Willensfreiheit ausgestattet seien, während die Prozesse der physischen Welt andererseits durch unveränderliche Gesetze geregelt würden, habe es den Menschen von der Natur abgeschnitten. Denn es gebe auch Gesetze für die Gesellschaft, es gebe eine Wissenschaft der sozialen Entwicklung, und durch das Studium der Menschheitsgeschichte sollten wir sie meistern können.


Saint-Simon schloß aus der Erforschung der Geschichte, daß die Gesellschaft abwechselnd Zeiten des Gleichgewichts und des Zusammenbruchs kenne. Das Mittelalter, meinte er, sei eine Zeit des Gleichgewichts, die Reformation und die Revolution seien eine Zeit des Zusammenbruchs gewesen. Nun sei die Gesellschaft reif für die Konsolidierung einer neuen Periode des Gleichgewichts. Die ganze Welt solle nun wissenschaftlich organisiert werden, und dies sei offensichtlich ein industrielles Problem, nicht, wie das achtzehnte Jahrhundert geglaubt habe, ein metaphysisches. Die alte Politik der Revolution habe keine Beziehung zu den gesellschaftlichen Realitäten und die militärische Diktatur Napoleons ebensowenig Beziehung zu den sozialen Bedürfnissen gehabt. Napoleon habe angenommen, daß ewiger Krieg und Eroberung die Ziele der Gesellschaft seien, während Produktion und Konsumation deren tatsächliche Ziele seien. Die Lösung sozialer Probleme bestehe in der Anpassung einander widerstreitender Interessen, die wirkliche Aufgabe der Politik sei daher einfach die Beherrschung der Arbeit und der Arbeitsbedingungen. Die Liberalen hätten allesamt unrecht, wenn sie auf der Freiheit des Individuums bestünden, in der Gesellschaft müßten die Teile dem Ganzen untergeordnet werden.


Die alten Liberalen sind zu nichts nütze, politisierende Soldaten auch nicht, man lege die Welt in die Hände der Wissenschaftler, der Industriellen und Künstler. Denn die neue Gesellschaft sollte nicht wie die Babeufs nach dem Grundsatz der Gleichheit, sondern als eine Hierarchie der Verdienste organisiert werden. Saint-Simon teilte die Menschheit in drei Klassen ein: die Gelehrten, die Besitzenden und die Besitzlosen. Die Gelehrten sollten die »geistige Macht« ausüben und das Personal für das oberste Gremium stellen, das der Rat Newtons heißen sollte - nachdem Saint-Simon in einer Vision enthüllt worden war, daß Gott Newton und nicht den Papst dazu auserwählt habe, neben ihm zu sitzen und der Menschheit seine Absichten zu verkünden. Dieser Rat sollte nach einem der Exposes Saint-Simons aus drei Mathematikern, drei Physikern, drei Chemikern, drei Physiologen, drei Literaten, drei Malern und drei Musikern bestehen, und er sollte sich damit befassen, neue Erfindungen und Kunstwerke für die allgemeine Hebung der Menschheit zu schaffen, und insbesondere damit, ein neues Gravitationsgesetz zu entdecken, das auf das Verhalten sozialer Gebilde anwendbar sei und die Menschen im Gleichgewicht halte. (Morellet, ein kommunistischer Philosoph des achtzehnten Jahrhunderts, hatte in einem Buch mit dem Titel »Das Gesetzbuch der Natur< behauptet, daß das Gesetz der Eigenliebe die gleiche Rolle in der moralischen Sphäre spiele wie das Gravitationsgesetz in der physischen.) Die Gehälter des Rates Newtons sollten durch allgemeine Umlage gezahlt werden, da es offensichtlich jedermann zum Vorteil gereichen würde, das Schicksal der Menschheit Männern von Genie anzuvertrauen; die Umlage wäre international, da es natürlich allen Völkern zum Vorteil gereichen würde, internationale Kriege zu vermeiden.


Die eigentliche Regierung allerdings sollte bei jenen Mitgliedern der Gemeinschaft liegen, die genügend Einkommen besitzen, um davon zu leben, und die ohne Bezahlung für den Staat arbeiten können. Die besitzlosen Klassen sollten sich dem unterwerfen, da es in ihrem eigenen Interesse läge, so zu verfahren. Als sie zur Zeit der Revolution versucht hätten, die Dinge in ihre eigene Hand zu nehmen, hätten sie das heilloseste Durcheinander angerichtet und sich selbst in eine Hungersnot manövriert. Die besitzenden Klassen sollten regieren, weil sie »mehr Einsicht« besäßen. Aber der Zweck aller sozialen Institutionen sollte sein, das Los »der ärmsten und zahlreichsten Klasse« geistig, moralisch und physisch zu bessern.


Es sollte vier große Verwaltungseinheiten geben, eine französische, eine englische, eine deutsche und eine italienische, die Einwohner der übrigen Erde, die Saint-Simon als eindeutig unterlegen ansah, sollten dem einen oder anderen Jurisdiktionsbereich zugeteilt werden und zur Aufrechterhaltung des zuständigen Rates beitragen.


Saint-Simon hatte es mit seinem Salon, seinen Zerstreuungen und seinen Reisen fertiggebracht, sein ganzes Geld auszugeben, und war nun in der Lage, die Armut aus erster Hand kennenzulernen. Vor allem hatte er behauptet, es sei wichtig, sich unter alle Gesellschaftsklassen zu mischen, sie jedoch zugleich von außen zu betrachten und sie im Geist der Wissenschaft zu untersuchen. Und der Grand-sei-gneur Sansculotte — wie ihn ein Zeitgenosse nannte, der ihn bewunderte - mit seiner Heiterkeit, seiner freudig-offenen Gemütsverfassung und seiner langen Don-Quichottesken Nase, der in »zynischer Freiheit« am Palais-Royal gelebt hatte, wurde nun bei neunstündiger Arbeitszeit und geringer Bezahlung Schreiber auf dem Montmartre. Einer seiner früheren Kammerdiener kam ihm zu Hilfe und beherbergte ihn. Keiner außer ganz wenigen Schülern schien die Bücher zu lesen, die er veröffentlichte, dennoch fuhr er fort zu schreiben, und zwar nachts, zu der einzigen Zeit, die ihm für sich selbst verblieben war.


In seinem letzten Buch, >Das neue Christentum<, umreißt er noch einmal sein System von einem neuen Standpunkt aus. Die segensreiche Kraft des Genius allein scheint Saint-Simon nicht länger aus-
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reichend. Er stimmt mit Reaktionären wie Joseph de Maistre darin überein, daß eine herrschende Religion nötig sei, um aus der Anarchie eine Ordnung zu machen, aber er lehnt die katholische und auch die protestantische Kirche ab: es ist Zeit für ein neues Christentum.


Christi oberster Grundsatz, »liebe deinen Nächsten«, zwinge uns bei der Anwendung auf die moderne Gesellschaft zu der Erkenntnis, daß die Mehrheit unserer Nächsten unvollkommen und elend sei. Der Ton liegt jetzt nicht mehr auf der Stelle des Lenkers an der Spitze der Hierarchie, sondern auf der des »besitzlosen« Mannes ganz unten, aber dennoch ist die Hierarchie so geblieben wie vorher, zumal Saint-Simons ganze Botschaft noch immer seine persönliche Version des Grundsatzes »noblesse oblige« ist. Die vermögende Klasse muß verstehen lernen, daß eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen auch eine Verbesserung der eigenen Lebensweise bedeutet, den Gelehrten muß gezeigt werden, daß ihre Interessen mit denen der Massen identisch sind. Warum nicht gleich zum Volke gehen? läßt er den Fragenden in seinem Dialog sagen. Weil wir versuchen müssen, die Menschen daran zu hindern, zur Gewaltanwendung gegen ihre Regierungen Zuflucht zu nehmen, wir müssen versuchen, die anderen Klassen zuerst zu überreden.


Er schließt - die letzten Worte, die er überhaupt schrieb - mit einer Apostrophierung der Heiligen Allianz, jenes Bündnisses zwischen Rußland, Preußen und Österreich, das als Antwort auf die Unterdrückung durch Napoleon gegründet worden war. Es war richtig, sagt Saint-Simon, sich Napoleons zu entledigen, was aber haben sie selbst aufzuweisen (die drei Mächte - d. Übers.) außer dem Schwert? Sie haben die Steuern erhöht, haben die Reichen beschützt, ihre Kirchen und ihre Höfe, selbst ihre Bemühungen um den Fortschritt beruhen ausschließlich auf Gewalt, sie halten zwei Millionen unter Waffen.


»Fürsten!« schließt er, »hört die Stimme Gottes, die durch meinen Mund zu euch spricht: werdet wieder gute Christen, entsagt dem Glauben, daß die Söldnerarmeen, der Adel, der widersetzliche Klerus, die korrupten Richter eure Hauptstützen darstellen, vereinigt euch im Namen des Christentums und lernt die Pflichten erfüllen, die das Christentum den Mächtigen auferlegt, erinnert euch, daß das Christentum ihnen befiehlt, mit aller Kraft, so schnell wie möglich das Los der Ärmsten zu bessern!«


Saint-Simon ging es nun schlechter denn je. Sein Kammerdiener und Schutzpatron war gestorben, und er war nicht einmal in der Lage, seine Bücher drucken zu lassen. Er war gezwungen, selbst Vervielfältigungen davon anzufertigen. Er schickte sie in dieser Form weiterhin an die gebildeten und ausgezeichneten Persönlichkeiten, die er noch für seine Ansichten zu interessieren hoffte, aber sie nah-


men ebensowenig wie zuvor von ihm Notiz. »Fünfzehn Tage«, schreibt er in dieser Zeit, »habe ich Brot gegessen und Wasser getrunken. Ich arbeite ohne Feuer, und ich habe sogar meine Kleidung verkauft, um es zu ermöglichen, daß meine Arbeit vervielfältigt wird. Ich bin diesem Unheil durch meine Leidenschaft für die Wissenschaft und das öffentliche Gute verfallen, durch meinen Wunsch, einen Weg zu finden, ohne Gewalt die schreckliche Krise zu beenden, in die die europäische Gesellschaft heute in ihrer Gesamtheit verwickelt ist. Und ich kann daher mein Elend bekennen, ohne zu erröten, und um die notwendige Hilfe bitten, die es mir gestatten soll, meine Arbeit fortzusetzen.« Es gelang ihm schließlich, seine Familie zu veranlassen, ihm eine kleine Pension zu schicken.


Er versuchte, sich im Jahre 1823 zu erschießen, blieb aber am Leben und setzte die schriftstellerische Arbeit bis 1825 fort, eine unvorhergesehene Folge, die ihm Erstaunen abnötigte: »Können Sie mir erklären, wie ein Mann mit sieben Bleikugeln im Kopf weiterleben und weiterdenken kann?« Als er 1825 starb, lehnte er ab, einen Verwandten zu empfangen, aus Furcht, seinen Gedankengang unterbrechen zu müssen.


»Mein ganzes Leben«, so hat er nach dem Bericht eines Schülers, der an seinem Sterbebett war, gesagt, »mein ganzes Leben läßt sich in einer Idee zusammenfassen: allen Menschen die freie Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu garantieren. Achtundvierzig Stunden nach unserer zweiten Veröffentlichung wird die Partei der Arbeiter organisiert werden: die Zukunft gehört uns!«


Er führte die Hand an den Kopf und starb.







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