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Einfacher Bericht Ende Januar



Montag, 19.1.2004
Es fängt gerade wieder an zu schneien, und sofort ist alles so, als wäre bald wieder Weihnachten. Der Schnee legt sich über Felder und Wiesen und die Strasse und lässt alles um mich herum einschlummern. Es ist auch immer ein freudiger Anblick, wie alles von frischem Schnee eingedeckt wird und einschläft. Der Schneepflug, der jetzt kurz vor Mitternacht mit Blinklicht und einem Gedröhne durchfährt, ist die einzige Spur der Realität. Er bringt mich wieder zurück und sagt, dass das nur ein physikalischer Vorgang ist und Schnee ein Hindernis auf allen öffentlichen Strassen.
Von mir aus müßte er hier nicht Schnee pflügen, meine Strasse ist 20 m hinter meinem Haus für den Verkehr gesperrt, aber er hat wohl den Auftrag, jede Strasse und jeden Bewohner vom Schnee zu befreien, also auch mich.

Meine Mutter hat mir erzählt, was mein Vater derzeit für eine seltsame Beschäftigung übernommen hat. Er ist ja Rentner, muß aber immer was zu tun haben. Sein Nachbar besitzt eine Schafherde, in der vorgestern ein Lämmchen geboren wurde, das bei seiner Mutter immer nur aus einer Zitze trinkt. Mein Vater muß jetzt dreimal am Tag die volle Zitze der Schafmutter ausmelken. Sie versuchen mit allen Tricks das Kleine auch an die zweite Zitze zu gewöhnen. Vor kurzem war in der Herde ein Schafbock, der anscheinend dauergeil war und alle Weibchen der Herde sexuell belästigte. Mein Vater und sein Nachbar haben sich dann aus einem Stück Leder eine Art Verhütungskonstruktion überlegt. Sie haben dem Bock eine Lederschürze um sein Gemächt angezogen, sodass er jetzt die Weibchen nicht mehr bespringt.
Das hat sich schon im ganzen Dorf herumgesprochen, das ja eigentlich eine Kleinstadt ist, zwei geteilt zwischen den Alteingesessenen und dem Neubaugebiet.
Aber eben doch sehr ländlich. Und man hilft sich untereinander aus. Es wird auch nicht eben schnell in einen Baumarkt gefahren und industrielle fertige Produkte gekauft, sondern erst mal selber getüftelt und in der Werkstatt nach etwas Geeignetem gesucht. Ich brauchte für eine Tür im Stall in meinem Haus eine Türklinke, die etwas speziell sein mußte. Ich wäre in den Baumarkt gefahren, aber mein Vater stöberte in seiner Müllhalde ein Stück Metall auf, das er genau so umbog, dass man sie schließen konnte, aber auch von der anderen Seite leicht zu öffnen war, wenn man die Hände vollbeladen mit Holz hatte. Natürlich gehen trotzdem alle gern und wie verrückt zum Baumarkt. Das ist hier eine Häuslesbauergegend und praktische Dinge wie elektrischer Garagenöffner oder Weinregale aus Plastik werden hier als wahrer Segen für die Menschheit gefeiert. Im Herbst hat der sechste Baumarkt in der Kreisstadt aufgemacht. Alle sind jetzt nebeneinander aufgereiht neben der Schnellstrasse.

Dienstag, 20. Januar 2004
Ich sehe jeden Tag den Zigarettenautomaten im Dorf, wenn ich an der Kurve beim ersten Bauer vorbei ins Dorf komme. Und er fällt mir natürlich jedes mal auf, weil er im Verhältnis zu allen anderen Dingen im Dorf das bunteste Ding ist. Das einzige, was an Gegenwart und Zivilisation erinnert, wenn man von Autos und Traktoren absieht. Das Auge ist quasi gezwungen, jedesmal, wenn ich um die Ecke biege, einen Blick drauf zu werfen. Und jedes mal bin ich auch kurz erleichtert, diesen Automaten zu sehen, weil ich die Gewissheit habe, immer Zigaretten holen zu können, wenn ich es einmal müßte. Aber weil ich lieber Tabak rauche, kam es bisher nie dazu. Heute jedoch hatte ich nichts mehr zu rauchen und ging ich hin. Aber der Automat war leer. Hier wurde schon lange keine Schachtel mehr raus gelassen. Die Preise waren noch in Mark und aus einem Schuber sproß eine kleine Wildesche.
Als ich zurück ging erzählte mir mein Nachbar, dass der Automat regelmäßig aufgebrochen worden wäre vom Sohn des Bauern, an dessen Haus der Automat hängt. Irgendwann ist das raus gekommen, weil der Junge sich für 200 Mark einen Gameboy gekauft hatte, den er mit Einmarkstücken bezahlte. Aber weil im Dorf sowieso niemand mehr raucht, wäre der Automat nicht mehr aufgefüllt worden. Aber abgenommen hat ihn seitdem auch niemand mehr. Und so ist das letzte Symbol für Moderne und öffentliches Leben mittlerweile ein Relikt geworden. Mir kommt es vor wie ein übrig gebliebenes Symbol aus den 70er Jahren als letzten Versuch, alle in die moderne Konsumgesellschaft mit einzubeziehen.

Donnerstag, 22. Januar 2004
Freitag ist mein Einkaufstag im Dorf geworden. Aber weil mir fast alle Lebensmittel ausgegangen sind, mache ich heute meine Runde durchs Dorf. Mir fällt auf, wieviel Zeit das immer in Anspruch nimmt, aber ich nehme mir auch Zeit und man muß mit jedem ein Schwätzchen halten. Die Milch kaufe ich beim Nachbarn, weil ich das bei ihm angefangen schon angefangen hatte, die Eier kaufe ich bei der alten Schadenbäuerin gegenüber der Kapelle, die immer mit Krücken in Stall geht, und dann gehe ich noch zum Metzger, der Freitags immer in einem Marktwagen Fleisch und Wurst verkauft, aber weil ich ja zum Dorf gehöre, kann ich auch schon unter der Woche was kaufen. Ich muß immer in die Metzgerküche rein, wo meist dichter Nebel herrscht. Je nach dem, an welchem Tag man dort reingeht, riecht es anders. Am Montag riecht es nach Stall und totem Tier, frischem Blut, weil an dem Tag wird das Rind und zwei Schweine geschlachtet. Mitte der Woche riecht es nach Fleisch und Donnerstags riecht es nach Wurstküche. Da dampft und räuchert es aus allen Kesseln. Heißes Wurstwasser wird ausgeschüttet und bildet noch mehr Dampf. Die Metzgerin ist aber sehr nett und nimmt sich immer einen Moment Zeit, auch wenn ich spüre, dass sie mitten in der Arbeit ist, und an ihre Würste denkt, die aus dem Wasser müssen. Sie gibt mir seit neuestem immer eine ganze Tüte voll Innereien und Abfällen mit für meine Katze.
Bei der alten Schadenbäuerin komme ich immer nicht so schnell los. Weil sie an Krücken geht, dauert es immer wenn ich klingle, bis sie die Tür aufmacht. Dann muß sie die Eier holen und ich warte im Treppenhaus mit den vielen ausgestopften Greifvögeln und Eulen. Jedes mal erzählt sie zu einem Tier eine Geschichte. Ihre Söhne mögen nicht, dass sie die toten Vögel, die sie auf dem Feld findet, immer mit nach Hause nimmt. Sie hat mir verraten, dass sie die Vögel mittlerweile heimlich immer mitnimmt, wenn sie nicht schon zu zerfressen sind von den Maden und in der Gefriertruhe aufbewahrt. Bei Gelegenheit fährt sie in die Kreisstadt zum Tierpräparator.
Sie fährt noch selbst Auto, auch wenn sie nie einen anderen Gang benutzt als den zweiten. Mit dem fährt sie stotternd an und heizt dann mit aufgedrehtem Motor an meinem Haus vorbei. Ich erkenne sie an ihrem Fahrstil. Das Seltsame ist, dass man sie gar nicht im Auto drin sieht, weil sie so klein ist, und dann wirkt es jedes mal, als würde ein ferngelenktes Geisterauto langsam, aber mit Vollgas, am Haus vorbei ziehen.

Freitag, 23. Januar 2004
Ich habe heute und an den letzten beiden Tagen Spaziergänge unternommen. Es ist wieder Winter und die Sonne scheint. Heute habe ich festgestellt, dass die Sonne schon wieder viel wärmer geworden ist. Es geht mit den Tagen aufwärts. Ich fahre mit dem Auto immer ein Stück weg, damit ich nicht immer dieselben Wege ums Haus herum gehe. Heute stellte ich den Wagen bei einem Aussiedlerhof ab und nahm den erstbesten Weg, der von der Strasse abging. Ich bin einen Berg hoch gegangen, immer in der Sonne. Zuerst führte der Weg hinunter, in ein Waldstück hinein. Aber auch hier schien die Sonne. Ich schaute mir den Waldboden etwas genauer an, fand aber nichts Besonderes. Ich fand auch keine Pilze, ich dachte wohl die ganze Zeit an Pilze, weil ich nach dem Spaziergang noch in den Supermarkt wollte und Shitake Pilze kaufen. Ich habe für heute abend jemand eingeladen und wollte Dim Sum machen. Im Internet wurde das Rezept übersetzt mit chinesische Knödel. Aber das war auch eine österreichische Seite. Jedenfalls dachte ich im Wald wie toll es doch wäre, hier meine Pilze zu finden, weil ich ahnte, dass ich sie sowieso nirgends hier in der Gegend bekommen würde. Ich fand aber nicht einmal Baummorcheln, die ich vielleicht zur Not als Shitake Pilze hätte durchgehen lassen können. Am Ende des Waldes mußte ich den Weg verlassen, weil der immer tiefer in ein unbewohntes Tal geführt hätte, wohin ich bei der warmen Sonne nicht hinwollte. Ich gab mein Spiel auf, mich für einen Weg durch Auszählen zu entscheiden aus und lief einige Meter hoch bis zum Waldrand. Dort mußte ich über einen elektrischen Viehzaun steigen, was mir Sorgen machte, weil ich das letzte mal, als ich vor dem Problem stand, kurz hingefasst hatte und einen jenseitsmäßigen Schlag bekommen hatte. Diese robusten und halbwilden Angus Rinder, die gerade Mode in der Landwirtschaft sind, brauchen anscheinend mehr Strom, als das übliche Vieh. Daniel, der daneben stand, hat mir erzählt, dass mein Rückgrat schlagartig nach hinten sich verbogen hätte und ich einen schrecklichen Schrei gemacht hätte. Ich fühlte mich danach gar nicht so schlecht, leicht neugeboren und irgendwo frisch.
Heute hatte ich aber dazu nicht schon wieder Lust und so lief ich den Viehzaun entlang, bis ich einen Baum fand, der nah genug am Zaun stand, so dass ich hochklettern konnte und drüber springen.
Als ich dann in der Sonne diese Viehweide hochlaufen mußte, wurde mir warm. Die Sonne stand direkt hinter mir und die Wiese gab auch Wärme ab. Der Schnee war nämlich hier an dem Südhang schon geschmolzen. Ich zog die Winterjacke aus und setzte mich auf einen Stein. Das waren also die ersten Sonnenstrahlen in diesem Jahr. Ich spürte, dass sie schon eine andere Kraft besaßen, als noch gestern.
Mir fiel ein, dass mein Vater, als erfahrener Baumkundler, immer sagt, dass ab dem 20. Januar der Saft wieder in die Pflanzen schießt und man das beim Baumschneiden bemerkt. Ich glaube er hat damit recht. Auch wenn noch lange kein Frühlingsanfang da ist, beginnen die Pflanzen sich schon langsam auf die nächste Wachstumsperiode vorzubereiten. Auch das Licht hat sich verändert. Es ist klar und die Fahlheit wie im Dezember ist verschwunden. Ich kenne das auch von mir selber, wenn man im Frühling so eine neue Wachstumsphase bei sich feststellt, wenn die ersten Sonnenstrahlen auf der Haut kribbeln oder die Luft voll von neuen Gerüchen ist.
So fühlte ich mich ein wenig, auch wenn ich wußte, dass es noch weithin ist bis zum Frühling. Vielleicht habe ich langsam genug vom Winter und der Abgeschiedenheit und Kargheit. Oben, am Ende der Viehweide kam ich dann auf eine Strasse mit Leitplanken. Ich konnte geschickt über den Stromzaun drüber. Über einen schmalen Berggrat, der oberhalb neben der Strasse entlang lief, erreichte ich die Albkante. Bei einem Gipfelkreuz machte ich Stop und setzte mich wieder eine Weile hin. Ich beschloss nicht mehr weiter zu laufen, weil ich noch in den Supermarkt wollte. Zwei Wanderer kamen vorbei, die sich gegenseitig vorrechneten, wie lange sie noch arbeiten mußten bis zur Rente, abzüglich Altersvorruhestand und ein jahr arbeitslos gemeldet sein. Ich hörte sie schon von weitem und sie sahen mich hinter dem Busch neben dem Gipfelkreuz nicht. Es war eine komplizierte Rechnung, die sie versuchten zu lösen, weil der jeweils andere immer Zwischenfragen stellte.

Von dort oben hat man einen sehr schönen Überblick über das ganze Gebiet. Man sieht die alten Vulkane Hohenstaufen, Stuifen und den Rechberg mit der Ruine. Es wirkt durch den Schnee wie gemalt. Man sieht die Albkante auf fast 50 Km Länge, wie sie schlangenartig immer wieder ins Flachland vorlappt. Fast wie kleine Fjorde. Und irgendwo ganz hinten am Horizont eine kleine Nadel. Der Fernsehturm von Stuttgart.

Im Supermarkt gab es natürlich keine Shitake Pilze. Dafür brachte mir eine nette junge Verkäuferin eine Packung mit getrockneten Steinpilzen. Und weil sie mich so erfreut angeschaut hatte, kaufte ich die Steinpilze einfach. Vielleicht habe ich sie auch zu erfreut angeschaut, so dass sie dachte, ebenfalls so reagieren zu müssen. Es kann einfach daran liegen, dass ich normalerweise nicht so oft jemanden zu Gesicht bekomme, und deswegen etwas zu aufmerksam auf jemand zugehe. Immerhin wußte sie, was ich wollte, und brachte sozusagen das am nächsten verwandte Produkt zu Shitake Pilzen. Einmal habe ich in dem Supermarkt eine Avocado gekauft und die Kassiererin nahm das grüne Ding in die Hand und fragte mich und meinen Besuch aus Berlin: Was ist das?
Egal.

Sonntag, 25. Januar 2004
Ich war heute zum Essen bei Nachbarn eingeladen. Sie haben ein schönes Einfamilienhaus, das wohl seit 20 Jahren immer noch das modernste Haus ist. Viele der 10 alten Bauernhäuser sind natürlich auch renoviert worden. Dennoch fällt mir ganz deutlich etwas auf. Auf dem Land ist vieles alt und das Altern ist ein wichtiger Gedanke hier, mit dem sich viele hier beschäftigen. Zum einen das Altern der Leute, und zum andern das Altern der Dinge, wie ich sie hier beobachte. Gegen das Altern wird alles unternommen. Die Häuser werden modernisiert, so dass man ihr Alter nicht erkennen soll. Sie werden heutzutage mit Materialien renoviert, die für die Ewigkeit gemacht sind. Gegen eine Renovierung mit soliden Materialien ist auch nichts einzuwenden. Außer, dass man einem Haus auch den Alterungsprozess ansehen darf.
Ich rauchte bei diesen Leuten nach dem Essen eine Zigarette auf der Terrasse. Nur an wenigen Spuren konnte ich das Alter des Hauses einschätzen. Ein ursprünglich altes Bauernhaus, dass so modernisiert wurde, damit es aussieht wie ein Neubau. Nur an kleinen Dingen spürte man den Lauf der Zeit, wie das ausgeblichene Holz am Wetterschenkel der Fenster oder der etwas ausgeleierte Griff der Terrassentür.
Aber auch gegen diese Alterungs- und Abnutzungserscheinungen werden sie noch ein Mittel finden. Die Nachbarn meinten dann auch, als ich auf die ausgeblichenen Wetterschenkel zeigte, dass, wenn sie heute nochmals renovieren würden, sie Kunststoffenster einbauen würden. Dann wäre man fertig.

Und ähnlich verhält es sich mit den jüngeren Rentnern, also die Menschen zwischen 60 und 70 Jahren. Sie kleiden sich alle so modern, dass man sie für jünger hält, als sie sind. Wenn die Gruppe Walker jede Woche an meinem Haus vorbei laufen, sind sie schick in bunten Farben gekleidet. Die alte Bäuerin, mit der ich mich gut verstehe und die mit ihren Krücken immer in Stall geht, sagte mir, dass diese Walkerinnen ungefähr so alt wären wie sie. Ihr aber sieht man das Alter an. Sie ist runter geschafft und trägt immer die alte Kittelschürze. Jedes Kind würde sie als alt bezeichnen.
Man muß nach neuen Spuren des Altwerdens suchen, oder einfach auf diese Diskussion ganz verzichten. Alles soll so alt aussehen, wie es auch ist. Hier stehen Hütten auf den Wiesen, die werden so lange stehen, bis sie umfallen. Und dann bleiben sie liegen bis sie verrottet sind. Und die Hütten sehen toll aus in ihrem letzten aufrechten Zustand. Sie erinnern mich an Schnappschüsse von tanzenden Menschen. Die eine Hütte schiebt die Hüfte nach links, das Dach nach rechts. Eine andere kippt so weit nach hinten, dass es aussieht wie einer dieser modernen südamerikanischen Tänze unter einem Stab hindurch. Einer anderen Hütte fliegen die Bretter nur so weg, wie Haare und Kleider bei Drehungen. Ich werde die tanzenden Hütten alle archivieren.

Montag, 26. Januar 2004
Heute tobt ein übler Schneesturm. Die Schneeflocken fliegen waagrecht ums Haus herum. Wenn ich schnell genug bin, kann ich sie im Wohnzimmer vom ersten Fenster bis zum fünften Fenster um die Ecke herum verfolgen. Vom Dach weht der alte Schnee herunter, was aussieht wie Vogelschwärme in weiß. Ich habe den Zeitpunkt verpasst rauszugehen und einen Spaziergang zu machen. Aber heute ist sowieso Montag, und montags denke ich immer viel arbeiten zu müssen. Eine neue Woche beginnt, eine neue Baustelle wird aufgetan.
Dagegen hätte ich nichts. Ich habe gerade nur keine Baustelle. Viele kleine Korrespondenzen. Ich habe zur Zeit auch kein Auto. Ich werde also meine Umgebung für einige Stunden oder Tage nicht verlassen. Vielleicht besuche ich heute abend den alten Bauer mit seinem Selbstgebrannten. Er kam gestern vorbei , weil der Postbote seine und meine Telefonrechnung verwechselt hatte und er nicht glauben konnte, 80 Euro vertelefoniert zu haben.

Seit ich hier bin, denke ich sehr viel ans Verreisen. Nicht Urlaub machen, sondern Herumreisen in Gebieten, von denen man nicht viel weiß. Ich fühle mich keinesfalls hier gefangen oder in der Einsiedelei. Das hier ist ja wie weg sein. Ich bin aus Hamburg weggegangen und hier lebe ich ja in der Fremde. Ich finde das Leben hier schon sehr exotisch, beziehungsweise habe ich das Exotische hier vor Augen. Vielleicht will ich deshalb mehr.

Ich gehe ab und zu bei einem Trödler vorbei, wenn ich in die Stadt muß. In einer alten Scheune hat er alles gesammelt, was er von Haushaltsauflösungen mitgebracht hat. Das sind alles schöne alte Dinge, die gut in mein altes Haus passen. Ich kaufe auch gern seine modernen Sachen, SchnickSchnack aus den Sechziger Jahren, von denen er keine richtige Preisvorstellung hat, verglichen mit dem, was solche Sachen in der Stadt kosten. Er macht aber immer einen guten Preis, weil er mein Haus kennt und er einer der wenigen Leute hier in der Gegend ist, die auch alte Sachen wertzuschätzen wissen. Alle anderen Leute können ja mit alten und gebrauchten Dingen nichts anfangen. Sie kaufen lieber das Produkt in neuerer und billigerer Verarbeitung, und zahlen dafür mehr.
Die Vorstellung von alt und neu ist ein großer Widerspruch hier.

Ich bin, als es dunkel wurde und der Sturm nachließ, doch rausgegangen. Mit den Gummistiefeln machte es richtig Spaß querfeldein gegen die Schneeflocken zu rennen. An auffallend vielen Stellen blieb kein Schnee liegen und grüne Wiesenstücke waren zu sehen. Wenn man sie näher beobachtet, bemerkt man wie zwischen den Grasbüscheln Wasserrinnsale aus dem Boden treten und nach ein paar Metern wieder versickern.
Ich rannte bis zu der Quelle, die seit dem Hochwasser mitten auf einer Wiese entstanden ist. Mein Lieblingswasserloch. Sie sieht aus wie eine dieser Klischee-Quellen. Ein armdickes Loch in der Erde, aus dem Wasser sprudelt und eine kleine Haube von 10 cm Höhe bildet. Ich gehe gern dorthin. Sie ist schön anzusehen. Und wenn man mit einem Stock drin rumstochert, kann man zusehen, wie langsam das Wasser wieder klar wird. Das Seltsame ist, dass sie einfach von allein mitten auf dieser Wiese entstanden ist. Jetzt fließt dort ein kleines Bächlein über die Wiese den Hang runter bis zum Feldweg. Heute kam aber schon viel weniger Wasser aus ihr heraus. Vielleicht versiegt sie, oder es bleibt ab jetzt ein kleiner Bach, wie es hier noch andere kleine Wiesenbäche gibt. Die meisten sind aber von den Bauern in Drainagen gelegt worden. Das ist hier auch eines der Lieblingswörter. Da mußt du eine Drainage legen. Und dabei ist es ein fast hoffnungsloser Kampf, weil das ganze Tal ein sehr wasserreiches Becken ist. Von der Albkante her drückt das Wasser einfach unaufhörlich aus dem Hang. Die Wiesen sind fast das ganze Jahr vollgesogen wie ein Schwamm.
Der Dorfarchivar erzählte mir, dass Grünbach schon zu Römerzeiten besiedelt war, weil es hier warme Mineralquellen gab. Ich fragte dann im Dorf herum und ein Bauer zeigte mir ein paar Brunnenschächte keine 50 Meter vom Dorf weg, aus denen Wasser floß. Es sprudelte auch leicht und er sagte, dass bis vor 20 Jahren, die Leute mit Wasserflaschen und Kanistern hier Wasser geholt hätten, besonders die Arbeiter von der jetzt stillgelegten Fabrik an der Bundesstrasse.
Ich probierte das Wasser und es schmeckte gut. Leider sind die Brunneneinfassungen schon ziemlich kaputt, sodass man befürchten muß, dass anderes Grundwasser dort mit einsickert.

Als es zum ersten Mal zu schneien begonnen hatte, hielt mich der Bauer an, als ich durchs Dorf fuhr und sagte, dass man jetzt auf den Wiesen auch die anderen Römerquellen erkennen könnte. Der frische Schnee blieb auf ca. 10 Meter großen Flecken nicht liegen, weil dort warmes Wasser aus der Erde drang.
Ich habe vor, mehr über die Mineralbrunnen herauszukriegen und würde am liebsten das Grundstück dem Bauern abkaufen.

Vorgestern war ich im Buchladen und erkundigte mich nach Büchern über die Gegend und etwaige Wasserkarten. Die Buchhändlerin, mit der ich mich gut verstehe, erzählte mir, dass es doch ein seltsamer Zufall sei, weil vor einer Woche der alte Graf von Rechberg, dem hier die halbe Gegend gehört, bei ihr im Laden war und eine Wasser- und Bodenkarte von Grünbach bestellt hat.
Vielleicht wird das jetzt ein Kopf an Kopf-Rennen zwischen dem Grafen und mir, wer als erster die Quellen findet, ähnlich wie bei der Entdeckung der Nilquellen oder der Erstbesteigung des Mount Everest.
Auch wenn vielleicht sich die Graf von Rechberg-Thermen schicker anhören, will ich der erste sein. Was soll ich tun? Soll ich Kontakt mit dem Grafen aufnehmen und mit ihm zusammenarbeiten? Was hat er vor?
Da er direkt oberhalb, auf der Albkante ein großes Gehöft besitzt, auf dem im Sommer das Wasser knapp wird, sucht er vielleicht nur nach einer Lösung dafür. Vielleicht kann ich ihn von meiner Idee überzeugen und er lässt die Brunnen wieder einfassen.
Vielleicht würde er auch mein Thermalbad-Vorhaben finanzieren und man könnte tiefere Bohrungen machen, um herauszukriegen, wie warm das Wasser wirklich ist, wie es die Römer berichten.
Ich würde dann ein Thermalbad bauen, mit verschiedenen Becken und Zugang zu den Wiesen und dem dahinter liegenden Wald, sodass das Bad direkt in der Natur liegen würde und man viel Platz zum Erholen hätte.
Man könnte dann auch "Bad Grünbach" sagen und die Bauern im Dorf könnten an die Kurgäste Zimmer vermieten und Eingemachtes verkaufen.
Ich würde in meinem Haus ein kleines Restaurant machen und es wäre ein Treffpunkt für die ganzen Wellness interessierten Freunde aus dem Umfeld. Vielleicht würden die Krankenkassen die Kosten übernehmen für eine Großstadt-Reha. Alle erholungsbedürftigen Kunststudenten und Alleinerziehenden könnten dann hier den Zauberberg nach spielen.


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