Von 0‑1 zu 0+1
Die Artist Placement Group
Die Artist Placement Group (APG) existiert in etwa parallel mit John
Lathams Zeitbasistheorie, von 1965 als dem GrŸndungstermin der Gruppe wie der
ersten Beschreibung eines Forschungsschwerpunktes zum Thema "Zeit",
bis 1989 zur Umwandlung der APG in 0+1 (noughtplusone / Organisation &
Imagination) und der Umschreibung des (in der Zeitbasistheorie) linearen Zeitbegriffs
in einen dimensionalen.' Insofern scheint es mšglich, eine Geschichte der APG
zu schreiben, da es mindestens zwei epochale Schwellen gibt, die eine
(De)Terminierung rechtfertigen. Das kann aber auch nur eine von mehreren
mšglichen Geschichten der APG sein, weil der historische wie kritische Abstand
zu kurz sind: Weder kenne ich alle Projekte und Ideen der Gruppe, wie sie von
den Individuen in ihr reprŠsentiert werden, noch bin ich ausschlie§lich
rational selektierender Beobachter, da ich selbst der Gruppe von 1978 bis 1984
angehšrt habe und ihren Protagonisten bis heute freundschaftlich verbunden bin.
Wenn ein Name Programm ist ‑ und bei dem Sprachpositivisten John
Latham sollte davon ausgegangen werden ‑, so setzt sich der der APG aus
drei programmatisch bedeutsamen Einzelbegriffen zusammen.' Ihre Diskussion auf
der Grundlage von Lathams Zeitbasistheorie markiert drei interne
Epochenschwellen der APG‑Geschichte: der Begriff des KŸnstlers fŸr die
Zeit von 1966 bis 1972, als er Ÿber das Civil Service Memorandum allmŠhlich
durch die Incidental Person ersetzt wurde; das Placement als interaktiver Werkbegriff
und soziale Strategie umfa§t den Zeitraum von etwa 1973 bis 1980, als unter
anderem durch Margaret Thatchers Umbau der britischen Gesellschaft der APG
jeder praktische Boden entzogen wurde; und der Gruppenbegriff steht von 1979
bis 1989 fŸr eine strukturelle Dynamik, die genuin individuell handelnde
Subjekte unter nachlassendem Au§endruck entwickeln ‑ d. h. fŸr die
Diskussion, ob John Lathams Zeitbasistheorie fŸr eine ganze KŸnstlergruppe als
Fundament ausreicht, wenn die Šu§eren HandlungsanlŠsse wie AuftrŠge,
Ausstellungen und Festivals fortfallen.
Letzteres mu§ grundsŠtzlich verneint werden, so wie ersteres als
Diskussionspunkt prinzipiell fŸr die ganze Dauer der APG erhalten geblieben
ist. Eine einzelne KŸnstlertheorie kann, so umfassend sie auch intendiert und
formuliert sein mag, niemals normative Kraft fŸr alle Gruppenmitglieder
erhalten, es sei denn Ÿber eng begrenzte ZeitrŠume oder auf klar definierte
Ziele hin. Doch was hei§t schon in diesem Zusammenhang Gruppe: Wer alles warum
und wie lange wo zur APG gehšrt hat, wer sich ihr selber zugerechnet hat, wer
APG‑Placements mit oder ohne Agreement der Gruppe, d. h. Barbara Stevenis
Betreuung, durchgefŸhrt hat: Das wird noch manche Dateien kritischer Historiker
fŸllen und kann nicht Thema dieses Textes sein.
Die GrŸndung der APG korrelierte mit John Lathams Zeitbasistheorie
intrinsisch durch die Definition kŸnstlerischer Arbeit als prinzipiell
unabgeschlossenem, nur durch zeitliche Ausdehnung begrenztem Werkproze§.4 Vom Informel und
seiner theoretischen Klammer aus RelativitŠtstheorie und Thermodynamik
ausgehend', definierte Latham ab Mitte der sechziger Jahre eine Minimalgrš§e
von (auch kŸnstlerischen) Ereignissen als geringster Ausdehnung von Zeit, als
energetischem Quantensprung zwischen Null und Eins; willkŸrlich, doch
hinreichend sinnvoll, wŠhlte er die Abspieldauer eines Filmbildes, darauf mit
exponentiellem Wachstum folgend Zeitabschnitte bis in kosmologische
Grš§enordnungen.' Illustriert wurden diese †berlegungen in allen greifbaren
Medien: (Arbeits)Zeichnungen, photographische Bildserien, Film, Text, spŠter
auch Skulptur.' John Latham erwies sich damit als Zeitgenosse der Konzeptkunst,
die Ausweitung auf das zeitgebundene Zusammenarbeiten mit anderen KŸnstlern lag
auf der Hand. Ein anderer Umstand half der Geburt von APG pragmatisch: Lathams
Ende seiner LehrtŠtigkeit an der St. Martin's School of Art in London. Die
frŸhen Mitglieder der APG waren teilweise seine ehemaligen Studenten.
€u§erer Anla§ der GruppengrŸndung war die Suche nach einem gesellschaftlichen
Kontext kŸnstlerischer Arbeit, der GrŸndungszeit entsprechend in der Industrie
verkšrpert. WŠhrend jedoch Gruppen wie die etwas spŠter gegrŸndete E. A. T.
(Experiments in Art and Technology) lediglich den materiellen Rahmen
kŸnstlerischer Arbeit erweiterten', begriff APG die Industrie von Anfang an als
komplexe Oppositionsstruktur, deren interne und vor allem administrative
ZusammenhŠnge im Kontext zeitbezogener Prozesse kŸnstlerische Fragestellungen
aufwerfen konnten. Grundidee der APG war die Zusammenarbeit von KŸnstlern und
gesellschaftlichen Gruppen auf Zeit, wobei der Zeitraum intensiver
Kommunikation auf Lathams Me§skala ‑ der Zeitbasis‑Walze ‑
von vornherein recht gro§ abgesteckt war: prinzipiell von Zeitband 18 als der
Zeit von der Wahrnehmung bis zum kurzen Nachdenken (zwischen 1 und 15 Sekunden)
bis zum Zeitband 24 als dem Telos kšrperlicher Existenz des Menschen (rund 70
Jahre), praktisch zwischen den ZeitbŠndern 20 und 22, also etwa vierzehn Tagen
und zweieinhalb Jahren.' Immer fungierte Barbara Steveni als soziales
Bindeglied, weit Ÿber den administrativen Auftrag einer GeschŠftsfŸhrerin oder
Agentin hinaus, als die sie zumeist mi§verstanden und erfolgreich im Kunstmarkt
imitiert wurde. Basis aller Arbeit war ein Vertrag zwischen APG und dem
jeweiligen Industriebetrieb Ÿber die Dauer der Arbeit und ihre Entlohnung (in
der Hšhe des Gehalts eines gutachtenden Wissenschaftlers); der Vertrag enthielt
au§er einer allgemeinen Passage Ÿber die Integration von Kunst und Technik
keine Angaben zur Art der Arbeit, zu eventuell entstehenden Produkten oder
Kunstwerken sowie zur sozialen Funktion des KŸnstlers im gegebenen Kontext.10
Genau diese Fehlstelle, bewu§t aus der Tradition situationistischer
Avantgarde Ÿbernommen11 und krasser Gegensatz zu
Ÿblichen IndustrievertrŠgen bildender KŸnstler, fŸhrte binnen kurzem zu
diversen Mi§verstŠndnissen und Problemen. Nahezu sŠmtliche Projekte mu§ten
allzu lange verhandelt oder konnten nicht in der ursprŸnglichen Form
durchgefŸhrt werden; der plštzliche Tod des APG‑Vorstandes Bernard
Bertschinger lšste manche personellen Verbindungen. 12 GrŸndungsmitglieder wie
Jeffrey Shaw erkannten schnell, da§ die notwendig folgende EinschrŠnkung aller
Fragestellungen auf rein škonomische Problemfelder vom Fundament seiner eigenen
Arbeit, der Bereitstellung interaktiver Strukturen, wegfŸhrten. Er grŸndete
bereits Ende 1967 die ERG (Eventstructure Research Group), blieb gleichwohl in
losem Kontakt zur APG und ist heute anerkannter Pionier der Computerkunst.13
Andere Gruppenmitglieder wie Stuart Brisley, David Hall oder Ian MacDonald
Munro tendierten frŸh zur Zusammenarbeit mit sozialen Institutionen wie
UniversitŠten oder Fernsehstationen. Insgesamt stellte sich um 1970 heraus, da§
der allgemein noch immer an das Werk (als Objekt und Ware) gebundene KŸnstler‑
und Kunstbegriff den Charakter einer Zusammenarbeit mit der Industrie im Sinne
der APG negativ profilierte: FŸr harmloses Produzieren gefŠlliger Kunstwerke
mit industrieller Hilfe war der Vertrag zu bŸrokratisch, fŸr eine
wissenschaftliche Beratung jedoch zu unspezifisch ‑ die
Verhaltenserwartungen von Industrie und KŸnstler erwiesen sich als
inkompatibel.
1972 lancierte das britische Innenministerium nach lŠngerem Streit der
Gruppe mit dem Arts Council ein Memorandum, das die Zusammenarbeit der APG mit
anderen Behšrden und regierungsamtlichen Institutionen empfahl; das Civil
Service Memorandum (CSM) fungierte als Grundlagenvertrag, der mit seinem
Schwerpunkt auf dem Placement alle notwendigerweise dilettantischen Begriffsstreitereien
um Kunst und KŸnstler hinter sich lassen konnte. In spŠteren Versionen dieses
Vertrags wurde sogar auf die Berufsbezeichnung des KŸnstlers verzichtet und
stattdessen die Incidental Person eingesetzt. JŸrgen Harten hat diesen Terminus
mit Begleitperson Ÿbersetzt, was jedoch den passiven Charakter einer Begleitung
zu stark hervortreten lЧt; richtiger, doch fatalerweise rechtlich wie
politisch besetzt, ist die †bersetzung als Beigeordneter, da in diesem Begriff
die Art und Form der Beiordnung zum Gemeinwesen noch nicht selbst erlŠutert
ist."
Der CSM‑Vertrag sah zwei Stufen der Zusammenarbeit von Gruppe,
KŸnstler und Behšrde vor: die Zeit einer DurchfŸhrbarkeitsstudie von einem bis
zu sechs Monaten und eine zweite Projektzeit von einem oder zwei Jahren. In
Gro§britannien wurden beispielsweise mit dem National Health Service diverse
Studien und Projekte durchgefŸhrt, mit anderen šffentlichen Verwaltungen kam es
mindestens zu mehreren Durchffihrbarkeitsstudien und einigen wenigen Projekten.
Das CSM sah keinerlei Resultate der Arbeit vor, der KŸnstler hatte einen Teil
seiner Lebenszeit, sein nichtspezifisches Wissen dem šffentlichen Projektgeber
zur VerfŸgung zu stellen; er konnte VorschlŠge machen, die recht hŠufig auch
realisiert wurden. So entstanden diverse Therapiehilfen, Volksbibliotheken und
Beratungsstellen, aber auch LandschaftsschutzplŠne, urbane Neuordnungen und
Gesetzesinitiativen als mehr oder minder unmittelbare Folgen von Placements. Um
1976/78 war APG auf eine Durchschnittsgrš§e von 15 Mitgliedern angewachsen, die
von ihrer Ausbildung her nicht nur bildende, sondern auch darstellende
KŸnstler, Schriftsteller, Musiker und Filmemacher waren. Da§ die an APG‑Projekten
beteiligten KŸnstler ihre Erfahrungen in eigenes, werkorientiertes Schaffen
einflie§en lie§en, war selbstverstŠndlich; ebenso, da§ die Resultate neben
Dokumentationsmaterialien in Ausstellungen oder bei Auftritten der APG
vorgefŸhrt wurden. Doch gerade diese Veršffentlichungspraxis trug zu
Mi§verstŠndnissen bei, die der APG sehr schaden sollten.
Das Problem war im Begriff
des Erfolgs versteckt, da mit ihm ein Bewertungskriterium eingefŸhrt wurde, das
sich jeder Kategorisierung entzog. WŠhrend Stuart Brisley sein Programm einer
radikalen Geschichte von unten als IdentitŠtsstiftung der New Town Peterlee im
Norden Englands fŸr gescheitert erklŠrte, weil doch nicht mehr als ein
Heimatmuseum dabei herausgekommen war, die wirklich sozialistische
Geschichtsschreibung damit aber blockiert wurde", gewann dasselbe Programm
fŸr die Stadtverwaltung, den lokalen Parlamentsabgeordneten und deutsche
Kritiker QualitŠten von Volksbildung und Stadtwerbung, war also ein voller
Erfolg." Und wenn diese Erfolgsmeldung sich so weit vor die
KŸnstlerintentionen schob, da§ ein weiterer Kritiker sie zum Angelpunkt eines
Vortrags Ÿber soziale Kulturarbeit machen konnte, dann wird deutlich, wie
derlei Bewertungen unkontrolliert wuchern kšnnen." Als mšgliches
Gegenbeispiel mag John Lathams Arbeit fŸr die schottische Landesregierung
genannt werden, die von kaum einem Besucher der APG‑Ausstellungen
verstanden und dennoch als langfristige Strategie wirksam wurde ‑ unter
anderem hat die Definition einer Abraumhalde als grš§tes Baudenkmal der Welt
fŸr eine ganze Region stabile Zeichen gesetzt." Mit einem Begriff wie
Erfolg ‑ durch den militŠrischen Ursprung des Begriffs Strategie noch
Ÿberhšht" ‑ war ein Konzept der Zusammenlegungen diverser Zeitebenen
von KŸnstlern und ihrer Gesellschaft nicht zu bemessen.
Was gruppenintern noch als normatives Problem des VerhŠltnisses von
Theorie und Praxis hŠtte abgearbeitet werden kšnnen, war am Ende der siebziger
Jahre durch den Au§endruck medialer Rezeption zum unlšsbaren Knoten geworden:
das SelbstverstŠndnis der APG und ihrer Mitglieder. Die Rezeption der APG wie
John Lathams durch die deutsche Kunstkritik war fest an Joseph Beuys geknŸpft:
Er hatte Latham und die APG wŠhrend der documenta VI ins Programm seiner Free
International University geholt. Zur Jahreswende 1977/78 war der APG im Bonner
Kunstverein eine Ausstellung eingerichtet worden, die die APG gegen Beuys
auszuspielen suchte beide erteilten dieser Erwartungshaltung bei einer
Podiumsdiskussion jedoch eine radikale Abfuhr?' Die Ausweitung der
Operationsbasis von APG auf den europŠischen Kontinent in den Jahren 1978 und
1979 wurde medial und damit administrativ2' durch die Rezeption erschwert, da§
hier eine Gruppe von sozialpragmatischen Problemlšsern kŠme, die gegenŸber der
gleichzeitigen Streetworker‑Bewegung den Vorteil hatte, aus anerkannten
KŸnstlern zu bestehen, also zum FŸnf‑Uhr‑Tee verdaulich zu sein.
Mit der Ausnahme einer einzigen DurchfŸhrbarkeitsstudie im Jahre 1984
wurde in der Bundesrepublik kein einziges APG‑Projekt begonnen oder
ausgefŸhrt, obwohl Ende der siebziger Jahre mindestens fŸnf davon in ein (fŸr
die KŸnstler) ernsthaftes Verhandlungsstadium getreten waren?' In …sterreich
und Frankreich, wo 1979/80 unter Šhnlichen PrŠmissen wie in Bonn APGWochen
stattgefunden hatten, ging es Šhnlich: Immer konnten ortsansŠssige KŸnstler die
gegenŸber APG ausgesprochene Projektbereitschaft fŸr eigene Vorhaben nutzen,
die mit einem Placement ebensowenig zu tun hatten wie mit John Lathams
Zeitbasistheorie.23 Mag sein, da§ am Ende der siebziger Jahre die
Bereitstellung der gesamten Vertikalstruktur vom Minister bis zum Pfšrtner fŸr
ein KŸnstlerprojekt ohne Werk‑ und Resultatsvorgabe ‑ nichts
anderes beinhaltet das CSM unter administrativen Kategorien ‑ fŸr
deutsche, šsterreichische und franzšsische Behšrden noch unvorstellbarer war
als fŸr britische: Auf dem Kontinent waren die Verhaltenserwartungen an die APG
so falsch, da§ keiner ihrer KŸnstler sie jemals hŠtte ausrŠumen kšnnen.
Als in Gro§britannien die Auswirkungen von Margaret Thatchers Politik
der Entstaatlichung sozialer Verwaltungen spŸrbar wurden, waren die
Arbeitsmšglichkeiten der APG auf der Basis des Civil Service Memorandum
weggefallen. FŸr die meisten Mitglieder bedeutete dies, das eigene VerhŠltnis
zur Gruppe zu Ÿberdenken; die Folge waren intensive Diskussionen zwischen den
Gruppenmitgliedern, insbesondere mit John Latham und Barbara Steveni. Sie
konnten jedoch nicht verhindern, da§ sich die Bindungen lockerten, da§ die
KŸnstler eigene Interessen stŠrker verfolgten. Bis in die frŸhen achtziger
Jahre hinein nahmen fast alle KŸnstler noch an Gruppenmanifestationen teil, das
Engagement hatte sich jedoch verschoben: Stuart Brisley war MitbegrŸnder einer
sozialistischen KŸnstlergewerkschaft, Hugh Davies weitete sein
musikwissenschaftliches TŠtigkeitsfeld aus, David Toop stieg ins
PopmusikgeschŠft ein, Ian Breakwell Ÿbernahm Artist‑in‑Residence‑Projekte.
Der Rekurs auf die fundamentalen Kategorien einer Raum‑Zeit‑Problematik,
die zur GrŸndung der APG gefŸhrt hatte, wurde zur internen und damit die Gruppe
insgesamt gefŠhrdenden Thematik, sicher auch durch John Lathams ErgŠnzungen und
Umformulierungen der Zeitbasistheorie24; ihren Grundannahmen vermochte nun kein
APG‑KŸnstler mehr unkritisch zu folgen.
Der Zerfall der Gruppenstruktur in der APG legte ein fundamentales
Problem des VerhŠltnisses von Theorie und Praxis kŸnstlerischer Arbeit blo§,
das wŠhrend des internationalen Booms von Concept Art und gesellschaftlichem
KŸnstler‑Engagement nur verschŸttet, nicht gelšst worden war: die
Materialisationsbindung von Kunst .25 Lathams
Zeitbasistheorie postulierte fŸr alle menschlichen wie kosmischen Ereignisse
eine definierbare Endlichkeit, darin der Grand Universal Theory folgend .26 Diese zeitliche
Ausdehnung lie§ sich ‑ wie in Lathams eigenen APG‑Projekten
geradezu lehrbuchhaft demonstriert ‑ auf gesellschaftliche Strukturen
Ÿbertragen, sowohl in bezug auf die Anwesenheit von KŸnstlern in sozialen
Prozessen als auch Ÿber die Proklamation endlicher, wenn auch langfristiger
Werkprozesse, die nicht notwendigerweise an diese Anwesenheit gebunden waren.
Doch was innerhalb dieser EntitŠten die Arbeit des KŸnstlers sein sollte, ob
sein blo§es So‑ und Dasein, sein soziales Engagement, sein Ingangsetzen
von selbstlaufenden Prozessen, das konnten weder die Zeitbasistheorie noch
Dutzende von internen und šffentlichen APG‑Diskussionen klŠren. Sicher
bewahrte das radikale Bestehen auf dem Proze§‑, ja Performanz‑Charakter27 im Begriff des
Placements die APG davor, in die Untiefen philosophisch verbrŠmter Didaktik zu
driften. Doch der Preis dafŸr war, da§ APG‑Arbeit und individuell kŸnstlerisches
Handeln wŠhrend der Vorverhandlungen, spŠtestens aber wŠhrend des Placements
selbst, weit auseinanderzutreiben begannen, allen generalistischen
Proklamationen zum Trotz. Das Resultat eines Placements mu§te rezent und mu§
historisch danach beurteilt werden, ob die initiierten Prozesse mit einem
kŸnstlerischen Oeuvre korrelierbar sind. Gerade die Tatsache
he, da§ alle APG‑KŸnstler aus ihren Projekten heraus eigenstŠndige
Werke ‑ ob Performances, Texte, skulpturale Assemblagen oder
Installationen, Kompositionen, Filme oder anderes duziert haben, verweist auf
die fŸr die Gruppe wie fŸr die ihr zugrundeliegende Zeitbasistheoexistentielle
Frage, ob die (zudem administrativ geregelte) soziale Arbeit von KŸnstlern
selbst : notwendig Kunst ist."
Sicher ist alles Kunst, was KŸnstler tun; und da jeder ein KŸnstler ist,
ist alle menschliche Arbeit Kunst. Doch der energetische Quantensprung, der
Kunst tatsŠchlich ausmacht, wird in dieser Formel nicht berŸcksichtigt."
Seine lineare Darstellung als zeitlich diskrete Abfolge von 0 zu 1 wie sie der
Zeitbasistheorie zugrundeliegt ‑ hat die Konzentration auf minimale
Ereignisstrukturen fŸr sich, jedoch den gravierenden Nachteil allzu einfach
scheinender Problemstellungen. Dies gilt fŸr John Lathams Theoriebildung samt
ihrer mehrfachen Neuformulierung wie allgemein fŸr den Praxisbezug der APG und
im besonderen fŸr Barbara Stevenis Verhandlungsposition gegenŸber mšglichen
Projektgebern. Im Bereich sozialen Handelns haben sich lineare Modelle nahezu
immer als unbrauchbar erwiesen, weil sie nur zwei Betrachtungsweisen evozieren
kšnnen: auf einen Erfolg hin oder Desinteresse. Derlei Ma§stŠbe kšnnen fŸr
kŸnstlerisches Handeln im sozialen Kontext nicht gelten; der Rekurs auf das
OEuvre ist letztlich unvermeidlich."
In jŸngster Zeit haben John Latham und Barbara Steveni eine dimensionale
Erweiterung des kŸnstlerischen Quantensprungs vorgenommen: 0 und I gehen auf
einer Ebene zusammen, was auch einen Pluralismus kŸnstlerischer und sozialer
Ereignisse ohne intrinsische AbhŠngigkeit denkbar werden lЧt. Weder LinearitŠt
noch Symmetrie werden als fundamentale Postulate aus der Zeitbasis‑Theorie
unabdingbar, damit fallen kategoriale Apriori wie Erfolg, Ergebnis oder Werk
weg.
Mag sein, da§ dies zu einer neuen Kategorie des Miteinander von
KŸnstlern und Gesellschaft fŸhrt ‑ dann ist diese Geschichte der Artist
Placement Group so oder so abgeschlossen und zu einem guten Ende gefŸhrt.
Anmerkungen
Der vorliegende Text hŠtte nicht geschrieben werden kšnnen, wenn nicht
Barbara Steveni und Ros Schadt immer wieder dafŸr gesorgt hŠtten, da§ die bei
der APG‑Arbeit entstehende Papierflut in wohlsortierte Ablagen und Ordner
kanalisiert wurde. Ihnen ist dieser Versuch gewidmet.
1 Biographical Detail, Beiblatt zu: Ausst. Kat, John Latham, Zeit und
Schicksal, Kunsthalle DŸsseldorf 1975, unpag.: Logo Barbara Steveni/John
Latham, London 1989.
2 John Latham, Report of a Surveyor, Stuttgart/London 1984, 5. 7‑11;
gerade weil er Sprache die FŠhigkeit logischer Konstitution ab einem
spezifischen Punkt abspricht, behandelt er sie als gegebenen Korpus, mit dem er
selbst operiert. Vgl. J.F. Lyotard, Der Name und die Ausnahme, in: M. Frank et
al. (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjekt, Frankfurt 1988, S. 180‑191.
3 John A. Walker, APG: Das Individuum und die Organisation, in: Ausst.
Kat. Artist Placement Group, Kunst als soziale Strategie, Bonn 1977, S. 10‑14,
hier 5. 12‑14; Walkers Differenzierung der Begriffe ist pragmatisch,
nicht systematisch. Da das Wort Placement nur unzureichend mit Einsatz Ÿbersetzt
werden kann, schon gar nicht mit Dozentur (vgl. Anm. 10), lasse ich es im Text
als Anglismus stehen.
4 John Latham, Time‑Base and Determination in Events, in: Ausst.
Kat. Latham a. a. 0. (Anm. 1), S. 1‑16, hier S. 12‑14.
5 C.C.L. Gregory, Astronom und Direktor der UniversitŠtssternwarte
London, dŸrfte fŸr Latham in etwa dieselbe Rolle gespielt haben wie der
Mathematiker Hermann Minkowski fŸr die deutsche Avantgarde der 1920er Jahre.
6 Auf einer gedachten Zeitlinie von 10‑23 Sekunden als hšchster
Frequenz bis zur lŠngsten vorstellbaren Dauer von 1021 Sekunden ‑ bei
einer angenommenen Existenz des Universums bis heute von 1018 Sekunden ‑,
markiert die 1/16 Sekunde (= 10
Sekunden) die zur physikalischen Konstruktion notwendige Symmetrieachse.
Vgl. John Latham, Event Structure, Approach to a Basic Contradiction, Calgary
1981, 5. 33. Zur Symmetrieforderung vgl. Ilya Prigogine/Isabella Stengers,
Dialog mit der Natur, MŸnchen 1981, 5. 148‑154.
7 Rolf Sachsse, Lichtjahr Zeitlos, in: APEX 2, 1988, 4 S. 116‑119.
8 JŸrgen Claus, Expansion der Kunst, Reinbek 1970, S. 64‑67; zu
APG's Industriebezug vgl. John Latham (Hrsg.), noit now, with APG news, No. 1,
London, May 1969, unpag.
9 Latham, a. a. 0. (Anm. 6), S. 36‑40, John Latham hat die in
diesem Buch vertretenen Thesen in einer Performance verarbeitet, die 1978/80 u.
a. in London und Bonn aufgefŸhrt wurde: Government of the ist and 13th chair.
10 Ausst. Kat. um 1968, Konkrete
Utopien in Kunst und Gesellschaft, DŸsseldorf 1990, Kšln 1990, S.203; die dort
gegebene †bersetzung ist allerdings in einzelnen Begriffen wie Placement,
šffentliches Auftreten etc. irrefŸhrend.
ii Roberto Ohrt, Phantom Avantgarde, Eine Geschichte der
Situationistischen Internationale und der modernen Kunst, Hamburg 1990.
12 Ausst. Kat. inn70, Hayward Gallery London 1971, unpag.: die dort
gemachten Aussagen gelten fŸr den ganzen Abschnitt.
13 Claus, a. a. 0. (Anm. 8), S. 37‑39; Hannes Leopoldseder
(Hrsg.), Der Prix Ars Etronica, Linz 1990, S. 184‑187.
14 Latham, a. a. 0. (Anm. 2), 5. 45; Ausst. Kat. Latham a. a. 0. (Anm.
1), S. 4.
15 Stuart Brisley, PrŠsentation Peterlee Development Corporation beim
25. Internationalen KunstgesprŠch der Galerie NŠchst St. Stephan, Wien, 6.6.
1979, vgl. Ausst. Kat. The Incidental Person approach to government, Wien 1979,
5. 1.
16 The Practicalities of Artist in Association with Local and Central
Government, šffentliche Diskussion wŠhrend der APGWoche, Riverside Studios
London, 14.7.1978; Margarethe Jochimsen, Kunst als soziale Strategie, in:
Ausst. Kat APG a. a. 0. (Anm. 3), S. 9.
17 Walter Grasskamp, Kulturarbeit zwischen Autonomie und sozialer
Verpflichtung, Vortrag beim XVI. Loccumer Kulturpolitischen Kolloquium, 24.2.
1988.
18 Terry Measham, John Latham, Ausst. Kat. Tate Gallery, London 1976, S.
22‑43; Ausst. Kat., APG a. a. 0. (Anm. 3), S. 28‑33.
19 Margarethe Jochimsen, Kunst als soziale Strategie, in: Kunstforum
International 27, 1978, 5. 72‑99.
20 Diskussion John Latham und Joseph Beuys am 13.1. 1978 im Bonner Kunstverein.
21 Wesentlicher Unterschied aller APG‑Verhandlungen in
Gro§britannien und auf dem Kontinent war ein kommunikatives Problem: WŠhrend in
Gro§britannien eine persšnliche Empfehlung ausreichte, um hinreichend
glaubwŸrdig und damit verhandlungsfŠhig zu sein, waren in der Bundesrepublik
und Osterreich allein aktenspezifische Unterlagen wie Dokumentation,
Veršffentlichungen und Beglaubigungsbriefe Auslšser einer gefŠlligen
Kenntnisnahme durch entsprechende Sachbearbeiter. Es erscheint bezeichnend, da§
die einzige deutsche APG‑DurchfŸhrbarkeitsstudie der persšnlichen
FŸrsprache eines mit angelsŠchsischen Gepflogenheiten vertrauten Politikers,
Prof. Dr. Reimut Jochimsen, zu verdanken ist.
22 Latham, a. a. 0. (Anm. 2), S. 49; vgl. auch Rolf Sachsse, APG in
Germany, in: Georg Jappe (Hrsg.), WellenlŠngen, Kšln 1986, 5. 32‑33.
23 Ausst. Kat. Incidental Person, a. a. 0. (Anm. 15): Ausst. Kat. Une
Certaine Art d'Anglais, Paris 1980.
24 Latham, a. a. 0. (Anm. 6); Latham, a. a. 0. (Anm. 2).
25 Vgl. Hans Heinz Holz, Le Strutture della Visualit‡, Corpo Superficie
Movimento Luce, Varese 1984, 5. 85‑102.
26 Vgl. Stephen Hawking, Eine kurze Geschichte der Zeit, Reinbek 1986.
27 Vgl. Paul Zumthor, Kšrper und Performanz, in: H.V. Gumbrecht, K.L.
Pfeiffer (Hrsg.), MaterialitŠt der Kommunikation, Frankfurt 1988, 5. 703‑713.
28 Ros Schadt, Rolf Sachsse (Hrsg.), Papers and Proceedings of the
discussion held at the Apollohuis, Jan. 16, 1982, Eindhoven/ Bonn 1982.
29 Latham, a. a. 0. (Anm. 1), S. 10‑11.
30 Jan Swidzinski, Quotations on contextual art, Eindhoven 1988, S. 21‑28.
aus : katalog, john latham, Òkunst nach der physikÓ, staatsgalerie
stuttgart, 1991