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Evolution als Parallelcomputer


Evolution als Parallelcomputer Evolution als Parallelcomputer

Stanislaw Lem   04.03.1997

Noch wissen wir nicht, wie das Leben entstand. Bis die ersten Mikroorganismen entstanden, die wir kennen, war eine ungeheuer lange Zeit des Experimentierens notwendig. Stanislaw Lem schlägt in seinem Beitrag vor, die Evolution des Lebens unter dem Bild eines massiv parallel arbeitenden Computers zu verstehen, und er zieht daraus überraschende Konsequenzen.

Evolution als Parallelcomputer

Ein Gespräch [0] mit Stanislaw Lem
Weitere Artikel von Stanislaw Lem: Meine Abenteuer mit der Futurologie [1], Informationsbarriere [2] und Exformation [3].

Der Ursprung des Lebens

In einem Artikel mit dem Titel "Die Rechenleistung des Lebens" habe ich kurz und vereinfacht eine Methode dargestellt, um zur Lösung von mathematischen Aufgaben, die bei einem normalen Computer eine riesige Berechnungszeit erfordern, kurze Nucleotidsequenzen heranzuziehen. Im dargestellten Fall ging es um eine Aufgabe aus dem Bereich der Graphentheorie: um das Herausfinden des kürzesten Weges zwischen einer großen Anzahl von Scheitelpunkten. Die unerwartet von Adelman entdeckte Rechenleistung entsteht dadurch, daß zur "Attacke" auf die gestellte Aufgabe eine beträchtliche Anzahl von Oligonucleotid-Abschnitten eingesetzt werden, die durch Polymerase vermehrt werden: im Endeffekt entsteht eine sehr große Anzahl von Einheiten, die gleichzeitig mit der Aufgabe beschäftigt sind, und zum Schluß erhalten wir eine solche Einheit, die die Lösung der Aufgabe beinhaltet (deren Struktur die Lösung der Aufgabe IST).

Weil die Aufgaben, die Adelman den Nukleotiden stellte, nicht unmittelbar zum Bereich der Biologie gehören und eher den Zweig einer ziemlich schwierigen mathematischen Theorie der Rekurrenzfunktionen darstellen (nicht direkt, aber ich kann hier nicht ausführlicher werden), habe ich dieses Phänomen der Anwendung einer force brute in der Lösungsphase (gewissermaßen in Form eines "flüssigen Parallelcomputers") als MODELL betrachtet, das NICHT für eine direkte Anwendung oder auch Übertragung auf die elementaren biogenetischen Prozesse geeignet ist. Nichtsdestoweniger kann man SCHON jetzt, auch wenn nicht ohne Risiko, einen Ansatz zu entwickeln versuchen, der zumindest in einer gegenwärtig noch ziemlich vagen Weise zeigt (in der sich aber die "Lösung des Evolutionsproblems" zu verbergen scheint), was, wie und weswegen das Leben auf der Erde entstand, bevor die kambrische Explosion der Vielzeller nach einer mehrere Milliarden von Jahren dauernden Stagnation des Lebens stattfand.

Die frühesten Lebensanfänge werden heute vor dreieinhalb oder vier Milliarden Jahren angesetzt. Dieses auf Protobakterien beschränkte Leben "explodierte" dann in einem für die Geologie sehr kurzem Zeitraum vor knapp achthundert Millionen Jahren in der kambrischen Evolution. Zuerst wurden die Ozeane und dann auch die Kontinente durch das Leben besiedelt, das sich in Pflanzen und Tiere auftrennte.

Replikation

Der Beginn des Lebens selbst scheint uns weiterhin unbekannt zu bleiben. Ein unabdingbares "Minimum" waren sicherlich irgendwie entstandene Replikatoren, also solche Verbindungen von organischen Molekülen in der Lösungsphase, die die Fähigkeit der Selbstreproduktion erworben haben. Replikation bedeutet in der Biologie die Entstehung von lebendigen Organismen aus Elternorganismen. Diese Voraussetzung der Replikation, also der Vermehrung, mußte anfangs erfüllt sein. Und auf die Frage, wie dies geschah, besitzen wir keine auf Experimenten (nicht einmal auf Simulationen) basierende Antwort. Wir müssen demnach diese früheste Lebensäußerung als gegeben voraussetzen. Meine weiteren Ausführungen werden sich auf die Andeutung beschränken, weswegen das Leben in seiner erst entstandenen Form "nichts außer sich selbst" erschaffen konnte.

Erfindungen

An dieser Stelle erlaube ich mir eine Anmerkung, die uns zwar dem biologischen Problem nicht unmittelbar näher bringt, die aber zumindest vor Augen führt, wie viele Produkte, die von uns nur für eigene Erfindungen oder auch für ausschließlich durch die Menschen gezogene Folgerungen aus wissenschaftlichen Entdeckungen gehalten werden, bereits Millionen von Jahren vor dem Auftritt des Menschen auf der Erde entstanden sind.

Als nämlich die ersten Generationen von Atomreaktoren auf der Grundlage der Spaltung (unter dem Einfluß von Neutronen) des Urans (U 235) entstanden sind, herrschte die Überzeugung, daß es auf unserem Planeten VOR der Ingangsetzung der ersten Kettenreaktion der Kernspaltung solche "natürliche Reaktoren" nicht geben konnte. Erst etwas später wurde aber so ein durch die Kräfte der Natur geschaffener "Reaktor" in Afrika entdeckt, der ohne jeden Zweifel funktionierte und die Umwelt über Hunderttausende von Jahren radioaktiv beheizte (gegenwärtig ist er radioaktiv "tot"). Dieses Beispiel zeigt, wie vorsichtig wir mit der Behauptung sein sollten, daß wir Menschen uns irgend etwas, gleich ob es ein "Atommeiler" oder ein "Computer" ist, ausgedacht oder zum ersten Mal in der Welt konstruiert haben.

Annähernd, aber leider nur annähernd, weiß man, daß die ursprüngliche Erdatmosphäre sauerstoffrei war, daß es in ihr viel Kohlendioxid und Methan gab, und daß das Leben aller Wahrscheinlichkeit nach (so nimmt man HEUTE an) in heißen Quellen entstand, weil es in höchstem Grad unwahrscheinlich und fast unmöglich wäre, daß das kaum entstandene Leben, bestehend aus in "Hyperzyklen" verbundene Molekülen (das Modell stammt von Manfred Eigen), schon die Sonnenenergie zu assimilieren vermochte. Wie man weiß, können dies Pflanzen dank des Chlorophylls, und vor den Pflanzen konnten dies bereits Algen. Aber der Prozeß, die Quanten der Sonnenstrahlung aufzufangen, ist so subtil konstruiert, daß es, wie ich meine, wahrscheinlicher wäre, auf der Oberfläche eines toten Planeten, z.B. auf dem Mars, ein Auto zu entdecken, das sich "irgendwie selbst aus einem Eisenerzlager herauskristallisiert hat".

Die Photosynthese konnte, anders gesagt, am Anfang der Biogenese nicht erfunden werden. Das Leben hat sich aber nach unserem unvollkommenen Wissen, das voller blinder Flecken ist, "selbst geschaffen", und deswegen mußte ihm auch in seiner Anfangsetappe dieser raffinierter Mechanismus, den die Pflanzen in der Photosynthese verwenden, vorenthalten bleiben. Auch diese Bemerkung ist nur teilweise nebensächlich, weil sie indirekt zeigt, daß die Entstehung des biogenetischen Präludiums sich nicht "auf einmal" und von Anfang an in den fortschreitenden Formen ereignen konnte, die dem Leben, das uns umgibt und das in uns selbst seinen Ausdruck gefunden hat, gleichen.

Die Sonne hatte am Anfang oder an der Schwelle der Biogenese eine ca. 10 bis 20% geringere Strahlungskraft als gegenwärtig. Deswegen mußte die Erde "irgendwie" beheizt werden, andernfalls nämlich hätte sie einen mächtigen Gletschermantel steinhart gefrieren lassen müssen. Was diese Erde vor vier Milliarden Jahren außer dem Sonnenlicht erwärmte, weiß man nicht mit Sicherheit, weil auch hier gegenwärtig Streitigkeiten toben, in denen Hypothesen und Alternativhypothesen aufeinanderprallen. Ich bin gleichwohl gezwungen einfach anzunehmen, daß die Oberfläche des bereits mit einer Kruste versehenen Planeten so erstarrt ist, daß große Gewässer entstanden sind und "irgendwie" so temperiert wurden, daß sie den biogenetischen Prolog ermöglichten. Zu dieser Zeit müssen die ersten Replikatoren entstanden sein. Ob sie ihre Nachkommen dank irgendeinem Vorläufer des Nucleotidencodes erzeugten oder auch nur wegen irgendeiner einfachen Struktur, die Replikationen überhaupt ermöglichte, weiß man nicht.

Ich halte es für angebracht, die Dimensionen unserer gelehrten Unwissenheit hervorzuheben, damit es nicht so aussieht, als würde ich hier auf einen Schlag "alles" erklären wollen. Dank der Entdeckung der Rechenleistung, die potentiell in den Nucleotiden schlummern, haben wir aber bereits einen Zugang zum Geheimnis ihres späteren Evolutionserfolges, denn Adelmans Oligonucleotide funktionieren wie ein Parallelcomputer oder, besser, wie eine riesige Anzahl (vielleicht mit einer trillionenfachen Kapazität) einzelner molekularer "Nanocomputer", von denen JEDER "auf eigene Faust" arbeitet und eine ÄHNLICHE Aufgabe zu lösen hat.

Programm Überleben

Man muß unbedingt den Hauptunterschied zwischen den molekularen Autoreplikatoren und unserem Computer erwähnen, der weder das Material, noch die Algorithmen der Programme betrifft. Der Unterschied besteht darin, daß WIR unserem Computer die Aufgaben aufzwingen, wobei wir sie so programmieren, daß wir ein von UNS benötigtes Ergebnis erzielen. Die "Urcomputer" hingegen, die sich zu Billionen auf der Erdoberfläche und vielleicht zuerst nur in der Tiefe der heißen Thermen, Geysire und vulkanisch erwärmten Gewässer vermehrten, enthielten KEIN PROGRAMM. Es konnte ihnen ja niemand ein Programm aufzwingen, und das einzige "Programm" war für sie einfach eine offensichtliche Tatsache: Überleben konnten nur solche Protoorganismen, die - durch Teilung - die nächsten Generationen in Gang setzen konnten, und diese nachkommenden Generationen haben sich nur sehr wenig von den Bakterienvorfahren unterschieden (Ich bitte zu berücksichtigen, daß ich nicht weiß, ob man jene Formen des "Urlebens" mit gutem Gewissen "Bakterien", Prokaryonten, oder wie auch immer nennen darf, aber ich muß irgendeinen Namen für sie verwenden).

So also "gab es am Anfang mikromolekulare, sich selbst vervielfältigende Computer-Replikatoren". Ganz sicher mußte eine riesige Mehrheit von ihnen umkommen, weil die Kunst der Replikation erst im Keim vorhanden war. Darüber hinaus haben wir keine blasse Ahnung, ob dieses Urleben mono- oder eher polyphylisch entstanden ist, d.h. ob es der Natur "gelungen ist", nur einen "Standardtyp" der Vorbakterien zu generieren oder ob es auch möglicherweise mehr von diesen Typen gab und sie vielleicht miteinander um das Überleben wetteifern mußten.

Die Tatsache, daß gegenwärtig alle biochemischen Verbindungen ausschließlich linksdrehend sind, scheint nahezulegen, daß anfangs (aber auch nicht mit Sicherheit) das "rechtsdrehende und linksdrehende Leben" entstanden ist, und daß in diesem Wettbewerb aus nicht nur schicksalsbedingten Gründen (aber ich kann hier auf diesen Problemzweig nicht weiter eingehen) das linksdrehende Leben gewann. In jedem Fall kann man mit dem "gesundem Menschenverstand" schließen, daß die biogenetischen Replikatoren zuerst ziemlich schlecht funktionierten, weil der Löwenanteil ihres Folgeprodukts "nichts taugte", also nicht überlebte. Und dadurch war bereits in jenem frühesten Stadium die Guillotine, die die Fähigkeit zu überleben von der Unfähigkeit trennte, einfach die Vernichtung, weil das, was sich nicht so vermehren konnte, daß die minimalen Bedingungen der Anpassung an die Umwelt und an andere Urorganismen erfüllt waren, umkommen mußte. Das scheint selbstverständlich zu sein.

Die lange Vorbereitungsphase

An diesem Punkt stoßen wir, wie mir scheint, auf ein ziemlich geheimnisvolles Hindernis, das bewirkt, daß wir das Leben "in der Retorte" allein immer noch nicht erzeugen (synthetisieren) können. Das Hindernis sehe ich in den MILLIARDEN VON JAHREN der unaufhörlichen Replikation, in der endlosen Existenz ausschließlich elementarer und gleichzeitig solcher Formen, die damals NOCH nicht über die kleinste Kreationspotential verfügten, das über ihr "existentielles Aussprossungsminimum" hinausging. Das ist - scheint mir - ziemlich fatal, und eine Bestätigung meiner Befürchtungen, die ich in der Summa Technologiae vor dreißig Jahren ausgesprochen habe: Es mußte erste die gigantisch lange, für die Menschen unvorstellbare Latenzzeit des Lebens vergehen, bevor aus dem Urleben der Vorbakterien der ganze Linnaeus-Baum der Arten hervorgehen konnte. Bereits aus den paläontologischen Protocodes, die sich aus den versteinerten Überresten erkennen lassen, wissen wir, daß das TEMPO der späteren Stämme, Ordnungen und Arten immer schneller wurde, wohingegen die "Vorbereitungsphase" - die Milliarden Jahre dauernde Lehrzeit des Lebens auf der Erde - am längsten war. Aber als einmal "der Schöpfungsmotor ansprang", steigerte sich das Entstehungstempo von immer neuen Arten, bis es das Maximum der Geschwindigkeit erst vor ungefähr einer Million von Jahren erreichte: als es den denkenden Mensch hervorbrachte.

In diesem Bild bleiben jedoch viele Unbekannte. Man darf in ihm bereits die ungeheuer schweren Mühen dieser force brute erblicken, die durch Millionen von Jahren aufs Geratewohl nichts außer der Minimalaufgabe des ÜBERLEBENS in Gang setzen konnte. Das Überleben allein war damals so ein schwieriges und riskantes Werk, daß von sämtlichen Lebensformen, die es irgendwann auf der Erde gegeben hat, 99% der Vernichtung anheimfielen. Über den Untergang der Reptilien, die über 120 Millionen Jahre unseren Planeten beherrschten, wissen wir besonders viel, weil es erstens oft Riesen mit ungeheuren Ausmaßen waren, deren gigantische Skelettüberreste bei Ausgrabungen entdeckt wurden, und zweitens, weil ihr Untergang auf eine ziemlich spektakuläre Weise geschah, aller Wahrscheinlichkeit nach auf Grund einer kosmischen Einwirkung. Aber immer deutlicher erkennen wir, daß das Leben auf der Erde sowohl durch "geologisch-vulkanische" und klimatisch-glaziale Veränderungen des öfteren ähnliche Katastrophen erlitten hat.

Wir sollten jedoch zu der uralten Vergangenheit, in der eine Milliarde Jahre lang eine "kreative Stille" herrschte, zurückkehren. Was sollte, was konnte sie beenden und unterbrechen, um zu der kambrischen Explosion zu führen, zu dem "plötzlichen" (d.h. "nur" innerhalb von Millionen von Jahren sich ereignenden) Ausbruch des evolvierenden Lebens, das heißt zum Start der "Evolutionsfortschritts"? Man sollte sich darüber klar sein, daß der Fortschritt eine für uns Zeitgenossen so selbstverständliche Tatsache ist, daß wir sie eigentlich überhaupt nicht bemerken. Ich halte nämlich das ganze, unter den Biologen typische Gerede über die "primitiven" Formen der Organismen oder ihrer einzelnen Organe für den Effekt eines merkwürdigen Irrtums. Wie kann man überhaupt z.B. annehmen, daß Insekten, die auf der Erde seit dreihundert Millionen von Jahren existieren und unvergleichbar weniger sensibel auf Radioaktivität als die Säugetiere mit dem Menschen an der Spitze reagieren, "primitiver" seien als die Primaten, inklusive dem Menschen, der ca. 10 -12 Millionen Jahren alt ist? Und wenn wir uns die Mikroorganismen anschauen, die es überall um uns herum und in uns gibt, dann sollte uns doch ihr Überleben während aller Epochen und der Milliarden von Jahren auffallen. Ich sage nicht, daß sie in einer unveränderten Gestalt überlebten. Leider verfügen gerade die Mikroorganismen, die bei uns oft Krankheiten auslösen, über eine derart große biochemisch-molekulare "Rechenleistung", daß wir mit unseren vollkommensten synthetischen Arzneimitteln und Antibiotika nur Lücken in die Fronten der uns angreifenden Bakterien schlagen können, die nach ziemlich kurzen Zeit gegen alle unsere Medikamente, gegen die ganze gegen sie pharmakologisch und medizinisch gerichtete Artillerie, resistent werden ...

Was bedeutet dieses Phänomen? Es bedeutet, daß gerade Bakterien - "die primitiven Formen" nicht als Individuum, nicht als Schar, aber als Gattungen - über ein solches kreatives Potential verfügen, das, eingebettet in der Rechenleistung, sich bei Bedrohung zu aktivieren vermag. Die beim Gentransfer entstehenden Permutationen und Rekombinationen verleihen ihnen Resistenz. Auf Grund dessen könnte man sich vorstellen, daß sogenannte "höhere" Tiere und der Mensch sich eine Resistenz gegen irgendwelche Giftgase oder gegen die Radioaktivität hätten aufbauen können ... Die auf den Bereich des Lebens angewandten Begriffe des "Fortschritts" und des "Primitivismus" sind also mit großer Vorsicht zu gebrauchen.

Als ich vor sechzehn Jahren den ersten Vortrag meines fiktiven Supercomputers GOLEM schrieb, legte ich folgende Worte in seinen (Metall)Mund:

Der "dritte" Weg der Evolutionstheorie

In der Evolution "IST DAS PRODUKT WENIGER VOLLKOMMEN ALS DER PRODUZIERNDE". Ich hatte damals außer der Intuition keine Grundlage, um diese These zu begründen. In diesen Worten steckt, wie der GOLEM weiter ausführte, die Verkehrung aller unserer Vorstellungen von der unübertroffenen Meisterschaft des Artenurhebers. Der Glaube an den Fortschritt, der mit der Zeit zur Perfektion führt und dem mit wachsender Geschicklichkeit nachgejagt wird, ist aus der Perspektive der Theorie älter als der Fortschritt des Lebens, der im Evolutionsbaum fixiert ist. (...) Ich habe erklärt: Das Produkt ist weniger vollkommen als der Produzent. Das ist ein ziemlich aphoristischer Spruch. Geben wir ihm eine sachlichere Gestalt: IN DER EVOLUTION IST EIN NEGATIVER GRADIENT BEI DER PERFEKTION DER SYSTEMLÖSUNGEN WIRKSAM. Das ist alles.

Weiter werde ich Golem nicht zitieren. Ich sage nur, daß meine Intuition nach so vielen Jahren begründeter als damals zu sein scheint, als ich sie in Gestalt des fiktiven Computerweisen ausgedrückt habe. Dabei geht es - so läßt sich dies jetzt darstellen - um den Kampf zwischen dem Lamarckismus und dem Darwinismus, also zwischen der These, daß die Evolution aus der Vererbung der von den Organismen erworbenen Eigenschaften hervorgeht, und derjenigen, daß sie ausschließlich von der Mutation der Gene verursacht wird, die die natürliche Zuchtwahl variiert (die Lebensfähigkeit auf die Probe stellt). Nicht ich und nicht Golem, sondern Verfasser von Arbeiten über "die Rechenleistung des Lebens" behaupten neuerdings, daß das Zusammenwirken von Zufallsprozessen (also der genetischen Veränderungen, die durch Mutationen einzelner Gene verursacht werden) mit einer bestimmten Steuerung solcher Änderungen möglich ist: es gibt weder nur den Erwerb von vererbten Merkmalen, noch ein völlig blind verstreutes Auftreten ganz zufälliger Mutationen.

MOMENTAN darf man von diesem "dritten" Weg nur so sprechen: die Schicksalhaftigkeit schließt die Steuerung der Ströme der nachkommenden Organismen nicht aus. Die GENOTYPISCH "guten" Lösungen offenbaren gewissermaßen die Tendenz, sich auf der elementaren Ebene der Gene fortzusetzen. Es gibt keine "reine Schicksalhaftigkeit" keine "reine Lenkung". Die ORTHOEVOLUTION (z.B. des Pferdes) ist weder das Ergebnis der Vererbung von erworbenen Merkmalen, noch das von blinden Mutationen. Es gibt Strukturen der genotypischen Botschaft, die gewissermaßen bevorzugt werden, so wie ein Stein, der, vom Abhang losgelassen, auf Grund der Trägheit weiter und weiter rollt. Mit großem Nachdruck könnte man also sagen, daß alleine die "Perfektion der Lösungen" einer bestimmten Aufgabe bei der Erzeugung von Gattungen den weiteren Annäherungen an "immer perfektere" Lösung die RICHTUNG gibt. Für verschiedene Gattungen sieht das sehr unterschiedlich aus. Für Elephantidae ist dies anders als für Primaten, weil "unterwegs" Formen entstehen, die die Finallösung "approximieren". Und wenn der Evolutionsprozeß diesen erreicht, bleibt er stehen. Deswegen hat Homo sapiens sapiens praktisch aufgehört zu evolvieren.

Spezialisierung und Fortschritt

Ich betone gewissenhaft, daß dies weder ein Axiom, noch eine ordentlich dokumentierte Hypothese ist. Auf jeden Fall aber steckt in allem, was ich bisher gesagt habe, eine Chance, den Prozeß der natürlichen Evolution der Pflanzen und Tiere neu zu betrachten: als das riesige GANZE. Die "brutale Kraft" des Lebens brauchte auf der elementaren Ebene der Replikatoren ungeheur viel Zeit, um die Phase zu erreichen, in der das Hinausgehen über die einfache Replikation überhaupt möglich wurde. Dieser Prozeß war sicherlich eine Art Umherirren (und darüber sprach mein Golem, als er die Evolution als "Umherirren des Irrtums" nannte). Wenn man aber aus der neuen Perspektive auf den gleichen Prozeß blickt, können wir sehen, daß zusammen mit der "Elementarität" der allerersten Organismen (der Mikroorganismen) im Verlauf der fortschreitenden Spezialisierung die ursprüngliche UNIVERSALITÄT verloren geht. Wie aus einem Baby ein Scholastiker, ein Schornsteinfeger, ein Arzt, Arbeiter, Professor, Fahrer, Mönch, Diktator oder Schneider werden kann, so könnte aus den Bakterien - falls eine Katastrophe, verursacht durch eine kosmische Einwirkung oder durch einen irdischen atomaren Krieg, die Ganzheit der höheren Lebensformen vernichten würde - in einer nächsten Evolution ein weiterer Reichtum an lebendigen organischen Formen entstehen. Natürlich wäre das neue Leben weder mit dem Leben identisch noch ihm ähnlich, das die Evolution bisher zu einem Linnéschen Baum der Arten gestaltet hat! Diese Möglichkeit ist potentiell in der Universalität des Lebens, in seiner biochemischen "nucleotidischen Rechenleistung", enthalten. Und das zeugt von den Verlusten, welche jede Richtung der Artenspezialisierung für das Leben mit sich bringt. Sie verursacht, daß wir die Regenerierungsfähigkeiten (einer Eidechse wird der Schwanz wieder wachsen, einem Menschen werden aber ein verlorenes Bein oder eine Hand nicht wieder wachsen) verloren haben.

Wer sich übrigens genauer für die ursprüngliche Form dieser ganzen Diatribe, die gegen den "evolvierenden Fortschritt" des Lebens gerichtet ist, interessieren sollte, wer die Kehrseite des "Fortschritts" sehen möchte, ohne eine Jeremiade zu hören, möge mein Buch Golem XIV (1981) heranziehen. Woher kam meine Verwegenheit, die heute - vor dem Ende des Jahrhunderts - ihre erste Anzeichen der Verifizierung findet? Ich weiß es nicht, aber ich denke, wenn ich mich vielleicht geirrt haben sollte, dann zumindest nicht in allem.

Das Spiel des Lebens

Man muß sich klar machen, daß die Verwendung des parallel arbeitenden Computers als Modell für die natürliche Evolution lediglich ein sich aktuell anbietendes Bild darstellt. Man kann annehmen, daß ein "sehr seltsamer" Computer entsteht, der kein anderes Programm außer jenem hat, das seine optimale Chance zum ÜBERLEBEN gewährleistet. Weswegen sind jedoch die Replikationen (ohne die die Evolution nicht über ihren protobakteriellen Prolog hinausgehen würde) notwendig? Weil das "Mikroleben" dort entsteht, wo es den Angriffen des molekularen Chaos (z.B. der Brownschen Bewegung) ausgesetzt ist und dadurch irgendeine Form entstehen MUSS, die sich DAUERHAFT diesem Chaos, das sie in die Erstarrung tauscht, widersetzt. Und das ist nur dann möglich, wenn eine Replikation entsteht. Was sich nämlich nicht leistungsfähig replizieren läßt, um sich den Angriffen des Wirrwarrs zu widersetzen (dem Gradienten der Entropie), das stirbt, d.h. es scheidet aus dem "Überlebensspiel" aus.

Die Selbstentstehung der Replikatoren ist jedoch nur die notwendige, aber nicht die hinreichende Bedingung für den weiteren Fortschritt der Evolution. Es wird nämlich ein SPIEL - so kann man den Evolutionsprozeß auch als Modell sehen - gegen die "Bank" geführt, die einfach die Gesamtheit der irdischen leblosen Natur darstellt. Sie "verschlingt" das sich nicht richtig vermehrende Leben. Es ist kein Nullsummen-Spiel, weil die Natur, wenn sie "gewinnt", also das Leben vernichtet, "nichts davon hat": das Gewinnen besteht im Überleben, die Niederlage bedeutet Untergang.

Replizieren, um zu überleben - dieses Minimalprogramm entsteht irgendwo an den Fronten der "trillionenfachen Tätigkeiten eines Molekülcomputers in der Lösungsphase". An diesen Fronten werden "Schlachten" ohne Unterstützung, separat, ausgetragen. Deswegen sprechen wir über den PARALLELISMUS ihrer Verläufe. Woher kommen die "Überschüsse" des kreativen Potentials, aus denen Eukaryonten, Algen, Pflanzen, Tiere zu entstehen beginnen, bis sie in einzelnen Zweigen des "buschartig wachsenden" Evolutionsbaumes "fixiert" werden, wobei jeder Zweig ein sich fixierendes Paradigma (Muster - pattern) eines bestimmten TYPS darstellt, und das weitere Spiel aus einem einmal entstandenen Paradigma alle möglichen Transformations- und Rekombinationskonsequenzen in Bezug auf STRUKTUR UND ART "zieht"? Dieses Potential mußte offensichtlich schicksalhaft entstehen, also so, daß die Bakterien, die NICHT das "prospektive Potential" des Evolutionsfortschritts erworben haben, weiterhin Bakterien blieben, und nur die Lebensformen, die zu einem "konstruktiven Konzept" von höheren selbstorganisierenden Schritten kamen, sich in die "Triebe" entwickelt haben, die Wirbellose und Wirbeltiere u.ä. darstellen. Es gab auch Regresse, da Bakterien entweder überleben oder sterben. Ein Landsäugetier hingegen kann durch eine "Regression" z.B. in das Meer als Seehund oder Delphin zurückkehren. Allgemein führt Spezialisierung den Lebensbaum hinauf, aber sie schaltet gleichzeitig die Chancen einer maximalen Änderung des Paradigmas aus. Wenn das Leben ein "Fischspiel" spielt, dann kann es nicht gleichzeitig ein "Insektenspielen" ausführen. Und wenn es ein Insektenspiel durchführt, kann es nicht Säugertier spielen. Das bedeutet, daß der "Computer des Lebens" selbst weitere neue Programme bei der Vervielfältigung der Arten wählt, und falls er in einigen Abzweigungen verliert (Reptilien haben doch vor 65 Millionen Jahren verloren), nimmt ein anderer paradigmatischer Zweig die Fortsetzung des ÜBERLEBENSSPIELS wieder auf. Programme - Ordnungen, Stämme, Arten - entstehen blind, aber durch Spezialisierungen erwerben sie eine wachsende Orientierung. Mehr wissen wir heute nicht.

Aus dem Polnischen übersetzt von Ryszard Krolicki

Links

[0] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2048/1.html
[1] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2078/1.html
[2] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2089/1.html


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