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Labyrinthe der Information


Stanislaw Lem 10.04.1997

Ignorantik, Insperten und Labyronthologie

Die Zahl der vernetzten Computer und der im Netz befindlichen Information wächst in exponentieller Weise. Die Informationssuche wird immer
wichtiger und gleichzeitig die Blockierung der Zugänge sowie Methoden der Filterung. Es kommt, wie Stanislaw Lem ausführt, zu
informationellen Kurzschlüssen, es entsteht das neuartige Informationsböse und möglicherweise die Informationsdepression.
Stanislaw Lem: Meine Abenteuer mit der "Futurologie" [0]
Stanislaw Lem: Informationsbarriere? [1]
Stanislaw Lem: Exformation [2]
Stanislaw Lem: Evolution als Parallelcomputer [3]
Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir graut. [4] mit Stanislaw Lem.

Informationskurzschluß

Erst neulich habe ich erfahren, daß Spezialisten des Pentagon vor mehr als 20 Jahren sich die Grundlagen des Internet als ein derart
verzweigtes Netz ausgedacht haben, daß es kein "Zentrum" besitzt. Es ging damals um Bildung einer globalen Nachrichtenübermittlung, die
durch den Gegner mit atomaren Schlägen nicht vernichtet werden konnte. Der Gegner war selbstverständlich die Sowjetunion. Auch wenn es
nicht zur militärisch und strategisch ausgelösten Geburt gekommen wäre, wäre das Internet unvermeidlich trotzdem entstanden, da es bereits
seit langer Zeit klar war, daß kein Computer für sich allein, auch nicht der größte, in seinem Speicher alles das einzuschließen vermag, was die
Menschheit als Information in allen ihren Varianten sammelt. Es begann also mit dem Fernsprechverkehr, mit Modems, mit Verbindungen, die
die Universitäten oder andere Forschungsstellen vernetzen. Gegenwärtig scheinen jedoch den großen Unternehmen die Konturen der erst
entstehenden weltweiten Infobahnen, des Information Highway, besonders einträglich zu sein.

Gleichzeitig beginnt das künftige Jahrhundert als "das Jahrhundert der Information" zu erscheinen, und ebenso sind sowohl die riesigen Vorteile
als auch die großen Gefahren immer klarer zu erkennen, die dank dem oder um diesen globalen "Kurzschluß" der universellen Verbindungen
aller mit allen anderen herum entstehen. Man kann bereits über die "virtuellen Bibliotheken", über die "virtuellen Heilanstalten", über den
Cyberspace lesen, die dem Vergnügen ebenso dienen wie den Wissenschaftlern und den Studenten, und schließlich auch jenen "Reisenden",
die gern, ohne das Heim zu verlassen, den amerikanischen Nationalpark Yellowstone, die Wüste Gobi oder die ägyptischen Pyramiden
besichtigen würden.

Mit einem Wort, die Schlüsselrolle spielt in jeder der Computerschnittstellen das INFORMATION RETRIEVAL. Als das Finden eines möglichst
sicheren, leistungsfähigen und schnellen Weges zu der Information, die von JEMANDEM gesucht wird, hat es mindestens zwei Gesichter. Eine
aus wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder anderen Gründen erforderliche Information sucht sowohl derjenige, dem sie legal und
rechtschaffen dienen wird, als auch derjenige, der sich in das Innere der Netze einschleichen will, um abzuhören, zu spionieren, einer
Information habhaft zu werden, um, mit einem Wort, eine moderne Variante des Verbrechers zu werden, der computer crime praktiziert. Dem
von Jahr zu Jahr mit einer exponentiellen Geschwindigkeit wachsenden Internet (man sagt, daß die heutzutage im Netz zugängliche Information
bereits das Volumen von 2300 Bänden der Großen Britischen Enzyklopädie überschritten hat), hat man eine Literatur gewidmet, die so schnell
wie es selbst wächst, und die man auch selbstverständlich dank dem Netz kennenlernen und lesen kann. Nur nebenbei sei gesagt, daß uns jetzt
am meisten geeignete polnische Entsprechungen der Begriffe fehlen, die in den USA für die vielen Innovationen geschmiedet wurden - für
rechtmäßige und rechtswidrige Handlungen, für Methoden "der Attacke", die zu den durch den Computercodes, Paßworte oder Losungen
geschützten "Informationsschätzen" zum Beispiel der Banken oder Unternehmen vordringt, und für Methoden der Verteidigung, die zu
Informationsfiltern werden. Beides verheddert sich stark in diese offensichtliche und elementare Tatsache, daß weder die "Knoten" des Netzes,
das heißt die Computer, von denen es bereits nicht nur Hunderttausende, sondern Millionen gibt, noch die "Netzaugen", also ihre Verbindungen,
nichts verstehen, obwohl sie potentiell "alles wissen".

Man kann also das Netz (das existierende Internet oder das, was aus dem Internet als einem Keim entstehen soll) nicht als einen globalen
Weisen, einen Zauberer und einen Wünsche erfüllenden Flaschengeist betrachten. Dieser scheinbare Flaschengeist "weiß" zwar alles, aber weil
er nichts von seinem Inhalt versteht, muß den Netzbenutzern das Finden beispielsweise von Wissens- oder Unterhaltungsangeboten auf eine
schlaue Weise erleichtert werden. Es ist wahrscheinlich ziemlich klar, daß zusammen mit der Zunahme der Benutzer, der Orte vom Typ
"interaktiver Videotechniken" oder virtueller Bibliotheken und schließlich der eigentlichen "Generatoren der innovativen Information", das heißt
einfach der kreativen Menschen in jeder beliebigen Sphäre und auf jedem Gebiet - der Kunst oder Wissenschaft, oder der Unterhaltung -,
gleichzeitig auch die Zahl der Wege wächst, auf welchen die Suchinformation reist, um die gesuchte Information zu finden.

Ignorantik, Insperten und Labyronthologie

In den Jahren 1972-1979 schrieb ich den Roman Lokaltermin, und ich finde in ihm, nicht ohne mich zu amüsieren, das folgende etwas lange
Fragment, das ich mir im Zusammenhang mit dem Gesagten zu zitieren erlaube:

"Ich erfuhr, daß im 22. Jahrhundert Losannien in eine schreckliche Krise geraten ist, die durch die Selbstverdunkelung der Wissenschaft
ausgelöst wurde. Zuerst wußte man immer öfter, daß das untersuchte Ereignis mit Sicherheit bereits irgendwann von irgendwem genau
untersucht wurde, man wußte nur nicht, wo diese Untersuchungen zu suchen waren. Die wissenschaftliche Spezialisierung zersplitterte sich in
exponentieller Progression. Die gravierendste Unpäßlichkeit der Computer - es wurden bereits Megatonnencomputer gebaut - war die
sogenannte chronische Informationsverstopfung. Man hat ausgerechnet, daß es in etwa fünfzig Jahren keine anderen Universitätscomputer
außer den Spürcomputern mehr geben wird, also solchen, die in den Mikromodulen und Denkmaschinen des ganzen Planeten aufzuspüren
suchen, WO, auf welchem Pfad, in welchem Maschinenspeicher die Information über das steckt, was für die aktuellen Forschungen die
Schlüsselrolle spielt. Um jahrhundertelangen Nachholbedarf aufzubereiten, entwickelte sich in einem rasanten Tempo die IGNORANTIK, das
heißt das Wissen über das aktuelle Unwissen, eine Disziplin, die bis vor kurzem verachtet wurde und die bis zur völligen Ignorierung reichte. Mit
der Ignorierung des Unwissens beschäftigte sich ein verwandter Zweig, nämlich die IGNORANTISTIK. Genau zu wissen, was man nicht weiß,
bedeutet jedoch, bereits manches über das zukünftige Wissen zu erfahren, wodurch dieser Zweig mit der Futurologie zusammenwuchs.
Streckenmesser vermaßen die Länge der Strecke, die ein Suchimpuls zurücklegen mußte, um die gesuchte Information zu erreichen. Und die
Strecken waren bereits so lang, daß man auf einen kostbaren Fund durchschnittlich ein halbes Jahr warten mußte, obwohl sich dieser Impuls mit
der Lichtgeschwindigkeit bewegte. Sollte sich die Fahndungsroute innerhalb des Labyrinths der Wissensgüter im heutigen Tempo verlängern,
hätte die nächste Generation der Spezialisten 15 bis 16 Jahre warten müssen, bevor die mit der Lichtgeschwindigkeit eilende Meute der
Fahndungssignale eine vollständige Bibliographie für das beabsichtigte Unternehmen zusammengestellt hätte.

Aber, wie bei uns Einstein sprach, niemand kratzt sich, wenn es ihn nicht juckt, und so entstand zuerst die Domäne der Experten für Suchkunde
und dann die der sogenannten Insperten, da die Not die Theorie der verdeckten Entdeckungen, also die durch andere Entdeckungen
verdeckten Entdeckungen, ins Leben rief. So ist die Allgemeine Ariadnologie (General Ariadnology) entstanden, und es begann die Ära der
Expeditionen in die Tiefen der Wissenschaft. Diejenigen, die sie planten, nannte man Insperten. Dies half etwas, aber nur für eine kurze Zeit, da
sich die Insperten, weil sie auch Wissenschaftler waren, mit der Theorie der Inspertyse beschäftigen, die sich in die Labyrinthik und
Labyrinthistik verzweigt, welche so verschieden sind wie Statik und Statistik, aber auch mit der umweggeführten und kurzgeschlossenen
Labyrinthographie sowie mit der Labyrintholabyrinthik. Bei der letzteren handelt es sich um die außerkosmische Ariadnistik, wie man
sagt. Das ist eine sehr interessante Disziplin, denn sie betrachtet das Weltall als eine Art kleines Regal oder Ablage in einer riesigen Bibliothek,
die zwar real nicht existieren kann, was aber nicht von großer Bedeutung ist, denn die Theoretiker können sich doch nicht für eine banale, da
physische Grenze interessieren, die die Welt der Insploration, also der Primären Selbstverzehrenden Invagination der Erkenntnis
aufzwingt. Diese schreckliche Ariadnistik sah nämlich eine unendliche Anzahl weiterer derartiger Invaginationen (Datensuche, Datensuche über
die Datensuche und so weiter bis zu den infiniten Mengen des Kontinuums) vor.

Ende dieses etwas zu langen Zitats...

Informationsmüll

Man soll, wie ich meine, diese aus dem litararisch-phantastischen Vorhaben übertriebene, also ein wenig groteske Possenreißerei verlassen,
um das Problem zu überlegen, das wie ein unsichtbarer Geist (vorerst) über der ganzen Frage des globalen Informationsnetzes schwebt, das
den Benutzern - gleich ob physischen oder rechtlichen Personen oder dem Interpol, Forschern oder Politikern, Kindern, Müttern, Reisenden,
Geistlichen usw. usw. - ermöglichen sollte, die von ihnen gesuchten Information zu erreichen. Dieser "Geist", den ich gerade erwähnt habe, stellt
eine vielleicht kritische Frage, nämlich danach, ob das Netz, wenn irgendein Super-Internet die Fähigkeit des VERSTEHENS der
allumfassenden Information hätte, die Zugänge zu den gesuchten Nachrichten erleichtern würde. Jetzt versteht nämlich - wie gesagt - ein
Computersynzytium gar nichts, auch wenn es eine Million Mal größer als das bisher entstandene sein sollte, genausowenig wie dies irgendeine
Bibliothek vermag, die als Büchersammlung auch von sich selbst heraus nichts begreifen kann.

Wenn man jedoch diese Frage stellt, muß man sich bewußt werden, daß man dadurch nicht nur ein den Computern mit beliebiger
Rechenleistung unzugängliches Gebiet betreten hat, nämlich das der Semantik, d.h. der BEDEUTUNG, die in ihre jeden Sinn präzisierende
Bereiche der Designation, Denotation und Konnotation einführt, sondern auch, was gleich zum Drama wird, auch folgende Frage eröffnet: Gibt
es "Informationsmüll", den man aus den Netzen beliebiger Struktur ausfegen müßte, oder gibt es ihn nicht?

Die Antwort muß leider durch den Relativismus erschwert werden. Was für einen Benutzer Müll darstellt, ist für einen anderen eine in jeder
Hinsicht nahrhafte und vielleicht unentbehrliche Information. Nehmen wir an, daß es sich um einen Wissenschaftler handelt, der sich mit der
Sammlung von Daten über Fälschungen von wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigt, die es heutzutage, wie man hinzufügen kann, in Hülle und
Fülle gibt und über die tatsächlich bereits Bücher geschrieben werden (ich habe bei mir gerade drei solche Titel). Ist ein Handbuch, das ein
Verzeichnis der Methoden enthält, mit denen man ins Netz "einbrechen" und eine "fremde" Information zum Nachteil von Dritten oder
Institutionen nutzen kann, Müll? Noch anders: Kann der Gedanke über den Einsatz von "Zensoren" im Netz selbst überhaupt zulässig sein?

Das ist aber schon, um Gottes willen, die Frage nach dem Schnee von gestern. Es gibt doch seit langem funktionierende "Zensurfilter". Sie
werden bloß von niemandem "Zensoren" oder "Wächter" genannt. Die informatorisch bestohlenen Institutionen (und wahrscheinlich auch
Personen) installieren nämlich sogenannte Firewalls, also quasi "Brandmauern", welche die eingehende Information filtern, während sie die aus
der lokalen Quelle herausgehende frei durchlassen. Das Netz enthält also bereits Keime der Zensur. Und was "den Müll" anbetrifft, so ist das,
was für einen Menschen " Rauschen" (informationsstörend) ist, für jemand Anderen, z.B. einen Informatiker, der noise level in einem Information
übertragenden Kanal untersucht, schon lange gerade die von ihm gesuchte und gemessene Information. Mit einem Wort: Es werden immer
mehr Weichen oder vielleicht irgendwelche Weichenverwalter erforderlich, die fähig sind, die Informationsflüsse nach dem übergeordnet zu
feststellenden Inhalt an die richtige Adressen zu leiten, so daß ein sich mit der Anatomie beschäftigender Fachmann keine Pornobilder
betrachten müßte und ein mathematischer Statistiker nicht dazu verurteilt wäre, aus seinem Computer die millionenfachen Ergebnisse von
Zahlenfolgen auszumisten, die irgendwelche Lottoziehungen darstellen. Diese Art Weichen werden immer mehr in dem Maße erforderlich, wie
das Netz selbst und ihre Benutzer wachsen werden.

Dämme in der Informationsflut

Ich muß zugeben, daß mich in den von mir gelesenen amerikanischen Veröffentlichungen, welche dem globalen Informationsnetz gewidmet
sind, die Spontaneität der Entwicklung des Netzes, aber auch die Einstellung der Informatiker dazu überrascht hat. Vor allem scheinen es alle für
eine selbstverständliche Evidenz zu halten, daß die englische Sprache die globale Sprache ist und das Problem der Zugänglichkeit von
"virtuellen Bibliotheken" für (sagen wir) irgendwelche Japaner oder anderssprachige Einwohner der Erde überhaupt nicht existiere (man weiß
inzwischen gut, daß die Computerleistung für Übersetzungen aus einer in eine andere Sprache niedrig war und weiterhin bleibt). Darüber hinaus
haben die Sorgen der Amerikaner einen sehr einseitigen, gewissermaßen augenblicklichen Charakter. Sie kümmern sich z.B. darum, daß
Geschäfte über das Netz sehr einfach abzuschließen sind, es fehlt ihnen aber die Zahlungssicherheit. Man kann, einfach gesagt, auf diesen
Wegen sehr leicht betrogen werden, und vor dem Mißbrauch können lediglich die Firewalls sowie andere ähnliche Verschlüsselungsbarrieren
schützen, die notabene schließlich durchbrochen werden können, denn es ist immer sehr schwierig, eine hundertprozentige Sicherheit zu
erreichen. Was ein Mensch als ein vollkommenes Schloß oder als vollkommene Kodierung konzipiert, wird von einem anderen so oder anders
überlistet.

Man weiß dagegen nicht (schon drittens), auf welche Weise man auf den Netzwegen den Wissenschaftlern, die nach Informationen der durch
Tausende von anderen Menschen in der Welt bearbeitenden Themen verlangen, "Dämme" einbauen soll. Im Bereich der populären Themen
wie, sagen wir, AIDS oder energetische, ökologische und last but not least medizinische Aspekte der Atomenergie ist bereits eine
Überschwemmung, eine echte Informationsflut entstanden. Daß sich die Sorgen eines konkreten Forschers, eines Verfassers von
wissenschaftlichen Arbeiten, nicht aus den mangelnden Kenntnissen der Weltliteratur ergeben, sondern umgekehrt aus dem Überfluß, mit dem
ihn ein richtig in das Netz des Internets gerichteter Computer zu überschütten kann, beseitigt das Problem wohl nicht. Zu wenig zu wissen, ist
genauso schlecht, wie "zu viel" zu wissen. Vor allem einfach deswegen, weil man die Informationsleistungsfähigkeit der Netzkanäle
beispielsweise mit Glasfaserkabeln vergrößern kann, während unsere menschliche Leistungsfähigkeit noch immer die gleiche wie ungefähr vor
100 000 Jahren ist, als unsere Spezies im Verlauf der Millionen Jahre währenden Anthropogenese entstanden ist. Mit einem Wort, auf dem
Entwicklungswege des Netzes treffen wir bereits auf nur teilweise vorhersehbare Hindernisse und stolpern über sie.

Hindernisse, die sich vielleicht in naher Zukunft ergeben werden, sind hingegen nicht leicht zu prognostizieren. Ich will an dieser Stelle nichts
über eine eigentlich triviale Frage sagen, da durchaus nicht alle bedeutsamen Veröffentlichungen schnell in die Computerspeicher, die am Netz
hängen, eingeführt werden und so die Ergebnisse der Forschungen, die für ein gegebenes Problem (z.B. AIDS) von lebenswichtiger Bedeutung
sind, der Allgemeinheit nicht zugänglich sind. Wegen des Netzes existieren sie nur für bestimmte Spezialisten.

Das Böse der Information

In dem ganzen, bislang lediglich angeschnittenen Komplex von Fragen, die sich im und um das Netz herum ausbreiten, ließ ich einen
besonderen, leider bereits beträchtlich entwickelt Bereich außer acht, über den ich in der Vergangenheit nichts geschrieben habe, als ich mich
des öfteren mit den Proben der prognostizierenden Erkundung der zukünftigen menschlichen Errungenschaften beschäftigt habe. Meine
Blindheit in dem Bereich, über den ich jetzt ein paar Worte sagen will, wurde sicherlich von meinem übermäßigen, im Widerspruch mit der
menschlichen Natur stehenden Rationalismus verursacht. Ich denke dabei an die merkwürdige Befriedigung, die aus Handlungen entsteht,
deren Zweck eine uneigennützige Destruktion, also das Böse ist, das dem Verbrecher keinen, nicht einmal den kleinsten materiellen Nutzen
bringt. Vielleicht ist gerade für diejenigen, die nichts Positives zu schaffen verstehen, das Zerstören ein Ersatz des Schaffens.

Dieses Phänomen war in der alten Geschichte immer vorhanden, in der elektronischen Epoche hat es sich jedoch in neuen Gestalten und mit
neuer Wirksamkeit gezeigt, beispielsweise in Form von Computerviren, die außer der Beschädigung von Programmen zu nichts dienen (ich
meine hier nicht solche Dietrichviren, aus denen ein Hacker irgendeinen, z.B. finanziellen, Vorteil ziehen kann). Es ist anzunehmen, daß gerade
der Cyberspace nach dem, was BEREITS geschieht, ein Bereich der zerstörerischen Spiele und nicht nur der unschuldigen vom Typ eines
"Herumkasperns" wird. Es ist offensichtlich angenehm, Menschen (nicht nur Frauen) mit frechen, beleidigenden Informationen uneigennützig zu
überschütten (ein "Interesse" hat offenbar der elektronische Sadist). Die Schwierigkeiten bei der Identifizierung der Täter vergrößern das
Ausmaß dieses widerwärtigen Treibens. Die uns bereits bekannten falsche Alarme über angeblich an öffentlichen Stellen gelegten Bomben
erhalten jetzt eine neue Erweiterung. Ähnliche Unannehmlichkeiten verschiedenster Art warten bereits "in den Windeln". Aber jedes Aufsehen,
das dadurch in den Massenmedien (im Rundfunk oder Fernsehen) ausgelöst wird, wird auch zur quasi-epidemieartigen Ausbreitung dieser
"Seuche des Informationsbösen" beitragen.

Mache ich selbst es nicht richtig, wenn ich dieser Frage so viel Aufmerksamkeit schenke? Ich denke nicht, daß es so sein sollte. Die sich im
unseren Jahrhundert wiederholenden Vˆlkermorde weisen leider auf eine positive Korrelation hin, die den Zivilisationsfortschritt mit der
Zunahme der Gefahren verbindet. Die Menge der Tatsachen ist so groß, daß sie eine nur zufällige Verbindung des einen Trends mit dem
anderen ausschließen. Die Computer, die in unser gesellschaftliches und privates Leben eingedrungen sind, bevor sie durch die Vernetzung die
globalen Informationskurzschlüsse zu schaffen begannen, zeigten ihre für alle technische Produkte typische Zweischneidigkeit. Ihre vorteilhafte
Vorderseite wird von der vielleicht manchmal sogar fatalen Rückseite begleitet. Die Zeit, als Jungen mit flinken Fingern alle "Schutzmauern"
überlisteten und in die Zentralen von Generalstäben, also in die Zentralen des Weltuntergangs mit der Dunkelheit des nuklearen Winters,
einschleichen konnten, ist noch nicht ganz vergangen. Vielleicht sollte man nicht mit so düsteren Akzenten diese Bemerkungen über das Internet
beenden, das noch "in den Windeln" steckt. Aber es gibt noch einen Aspekt, an den man denken sollte.

Sehnsucht nach dem Wirklichen

Durch die Befürworter des globalen Computernetzes wird oft die Situation der nahen Zukunft angepriesen, in der ein Mensch von Zuhause aus
Zugang zu allen Bibliotheken und auch Videobibliotheken der Welt haben kann und sich dem intensiven Gedankenaustausch mit einer großen
Menge von Menschen dank der verbesserten Email widmen kann. Er kann Kunstwerke, die Bilder der Meister, betrachten und selbst
ausgeführte Zeichnungen oder Bilder in alle Richtungen der Welt schicken; er kann intensiv wirtschaftlich tätig sein, irgendwelche Wertpapiere
und Aktien kaufen und verkaufen; er kann entzückende Personen des anderen Geschlechts verführen oder von ihnen verführt werden und
manchmal wohl nicht sicher sein, ob er es mit erotischen Phantomen oder mit Personen aus Fleisch und Blut zu tun hat; er kann ferne Länder
und ihre Landschaften betrachten ... und so weiter. Er kann das alles ohne das kleinste Risiko (vielleicht ein finanzielles ausgenommen) machen,
aber er bleibt doch einsam. Und das, was er erlebt, ist das Ergebnis einer riesigen Ausweitung, einer planetarischen Vergrößerung seines
Sensoriums.

Falls das alles so ist, kann ich nur sagen, daß ich nicht für alle Schätze der Welt bereit wäre, mit einem so beglückten Menschen, der so
wunderbare und gleichzeitig so illusorische Chancen der Erfüllung aller seiner Wünsche hat, zu tauschen. Sicherlich wird es schwierig sein, die
elektronische Verbindung "mit allen und allem" einfach als einen technisch vervollkommneten Betrug zu bezeichnen, aber wo es in der Zukunft
zum Austausch der wirklichen Natur mit ihrem vollkommenen Ersatz käme, wo der Unterschied zwischen dem, was natürlich, und dem, was
künstlich ist, zu verschwinden beginnt, wird in der mit Elektronik und Zaubereien vollgestopften Einsamkeit vielleicht der depressive Wahnsinn
lauern - als Verlangen nach Authentizität, als Durst nach echtem Risiko und nach wirklichem Kampf mit den Widrigkeiten des Lebens. So fatal
wird wahrscheinlich diese Entwicklung nicht enden, doch über ihr mögliches Ziel sollte man schon heute, wenn auch nur einen Augenblick lang,
nachdenken.

Aus dem Polnischen übersetzt von Ryszard Krolicki

Links

[0] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2078/1.html
[1] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2089/1.html
[2] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2108/1.html
[3] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2113/1.html
[4] http://www.heise.de/tp/deutsch/kolumnen/lem/2048/1.html

Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/kolumnen/lem/2125/1.html

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