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Dziga Vertov
Wir. Variante eines Manifestes

Wir nennen uns »Kinoki« im Unterschied zu den »Kinematographisten« - der Herde von Trödlern, die nicht übel mit ihren Lappen handelt.
Wir sehen keine Bindung zwischen der Gerissenheit und Berechnung des Handels und der echten Filmsache.
In unseren Augen ist das von der Sicht und den Erinnerungen der Kindheit belastete psychologische russo-deutsche Kinodrama Humbug.
Dem amerikanischen Abenteuerfilm, dem Film des optischen Dynamismus, den Inszenierungen der amerikanischen Pinkertonovscina - das Danke des Kinoks für die Schnelligkeit des Bildwechsels und für die Großaufnahmen! Gut, aber regellos, nicht auf das genaue Studium der Bewegung gegründet. Eine Stufe höher als das psychologische Drama, aber dennoch ohne Fundament. Schablone. Eine Kopie der Kopie. /'
Wir erklären die alten Kinofilme, die romantizistischen, theatralisierten u. a. für aussätzig.
Nicht nahekommen! Nicht anschauen!
Lebensgefährlich! Ansteckend!
Wir bekräftigen die Zukunft der Filmkunst durch die Ablehnung ihrer Gegenwart.
Der Tod des »Kinematographen« ist notwendig für das Leben der Filmkunst.
Wir rufen dazu auf, seinen Tod zu beschleunigen.
Wir protestieren gegen die Ineinanderschiebung der Künste, die viele eine Synthese nennen. Die Mischung schlechter Farben ergibt, auch wenn -sie im Idealfall nach dem Farbenspektrum ausgewählt worden sind, keine weiße Farbe, sondern Dreck.
Zur Synthese im Zenit der Errungenschaften jeder Kunstgattung - aber nicht früher.
Wir säubern die Filmsache von allem was sich einschleicht, von der Musik, der Literatur und dem Theater; wir suchen ihren nirgendwo gestohlenen Rhythmus und finden ihn in den Bewegungen der Dinge.
Wir fordern auf: Weg-von den süßdurchfeuchteten Romanzen, vom Gift des psychologischen Romans, aus den Fängen des Liebhabertheaters, mit dem Rücken zur Musik!
Weg - ins reine Feld, in den Raum der vier Dimensionen (drei + Zeit)! Auf zur Suche nach ihrem Material, ihrem Jambus, ihrem Rhythmus!
Das »Psychologische« stört den Menschen, so genau wie eine Stoppuhr zu sein, es hindert ihn in seinem Bestreben, sich mit der Maschine zu verschwägern.
Wir sehen keinen Grund, in der Kunst der Bewegung dem heutigen Menschen das Hauptaugenmerk zu widmen.
Die Unfähigkeit des Menschen, sich zu beherrschen, ist vor den Maschinen beschämend; aber was tun, wenn uns die fehlerlosen Funktionsweisen der Elektrizität mehr erregen als die regellose Hetze aktiver und die zersetzende Schlaffheit passiver Leute.
Uns ist die Freude tanzender Sägen einer Sägemaschine verständlicher und vertrauter als die Freude menschlicher Tanzvergnügen.
Wir schließen den Menschen als Objekt der Filmaufnahme deshalb zeitweise aus, weil er unfähig ist, sich von seinen Bewegungen leiten zu lassen.
Unser Weg - vom sich herumwälzenden Bürger über die Poesie der Maschinen zum vollendeten elektrischen Menschen.
Die Seele der Maschine enthüllen, den Arbeiter in die Werkbank verlieben, den Bauern in den Traktor, den Maschinisten in die Lokomotive!
Wir tragen die schöpferische Freude in jede mechanische Arbeit. Wir verbinden den Menschen mit der Maschine. Wir erziehen neue Menschen.
Der neue Mensch, befreit von Schwerfälligkeit und linkischem Wesen, wird mit den genauen und leichten Bewegungen der Maschinen ein dankbares Objekt für die Filmaufnahme sein.
Mit offenen Augen, des maschinellen Rhythmus bewußt, begeistert von der mechanischen Arbeit, die Schönheit chemischer Prozesse erkennend, komponieren wir das Filmpoem aus Flammen und Elektrizitätswerken, begeistern wir uns an der Bewegung der Kometen und Meteoriten und den Strahlen der Scheinwerfer, die die Gestirne blenden.
Jeder, der seine Kunst liebt, sucht das Wesen ihrer Technik zu erfahren.
Die erlahmten Nerven der Kinematographie brauchen das strenge System genauer Bewegungen.
Der Jambus, das Tempo, die Bewegungsart, ihre genaue Disposition im Hinblick auf die Achsen der Einstellungskoordinaten, vielleicht aber auch zu den Weltachsen der Koordinaten (drei Dimensionen + die vierte - Zeit) müssen vom " Filmschöpfer berücksichtigt und untersucht werden. Notwendigkeit, Präzision und Geschwindigkeit - drei Forderungen an die Bewegung, die der Aufnahme und Wiedergabe wert ist.
Der geometrische Extrakt der Bewegung, gepackt vom Wechsel der Darstellungen, ist die Forderung an die Montage.
Die Filmsache ist die Kunst der Organisation der notwendigen Bewegungen der Dinge im Raum und - angewandt - das rhythmische künstlerische Ganze, entsprechend den Eigenschaften des Stoffes und dem inneren Rhythmus jeder Sache.
Der Stoff - die Elemente der Bewegungskunst - sind die Intervalle (die Übergänge von einer Bewegung zu anderen) und keinesfalls die Bewegungen selbst. Sie (die Intervalle) geben auch der Handlung die kinetische Lösung.
Die Organisation der Bewegung ist die Organisation ihrer Elemente, d. h. der Intervalle in Sätzen.
In jedem Satz gibt es einen Aufschwung, Errungenschaft und Fall der Bewegung (eine Enthüllung auf dieser oder jener Stufe). Das Werk baut sich ebenso aus Sätzen auf wie der Satz aus Intervallen.
Um ein Kinopoem oder eine Sequenz in sich reifen zu lassen, muß der Kinok sie genau aufzeichnen können, um ihnen unter günstigen technischen Bedingungen das Leben auf der Leinwand geben zu können.
Das vollendetste Szenarium kann diese Aufzeichnung nicht ersetzen, ebensowenig wie das Libretto die Pantomime ersetzen kann, ebensowenig wie die literarischen Erläuterungen
zum Werk Skrjabins eine Vorstellung von seiner Musik vermitteln können. Um auf einem Blatt Papier eine dynamische Studie zu entwerfen, bedarf es graphischer Zeichen der Bewegung.
Wir sind auf der Suche nach dem Filmalphabet.
Wir fallen und wachsen hoch im Rhythmus der Bewegung verlangsamter und beschleunigter Dinge,
die sich von uns entfernen, neben uns sind, über uns, um uns, sich gerade oder in Ellipsenform bewegen, von rechts und links, versehen mit einem Plus und Minus: die Bewegungen verkrümmen, korrigieren, teilen, zerschroten, multiplizieren sich miteinander, durchschießen geräuschlos den Raum.
Das Kino ist ebenso die Kunst der Erfindung der Bewegung der Dinge im Raum, die den Forderungen der Wissenschaft entsprechen, die Erfüllung des Traums des Entdeckers, sei dies ein Gelehrter, Künstler, Ingenieur oder Zimmermann, die Verwirklichung des im Leben nicht zu Verwirklichenden durch die Filmsache.
Zeichnungen in Bewegung. Konstruktionsentwürfe in Bewegung. Projekte der Zukunft. Die Relativitätstheorie auf der Leinwand.
Wir begrüßen die gesetzmäßige Phantastik der Bewegungen.
Auf den Flügeln der Hypothesen stürmen unsere durch Propeller angetriebenen Augen in die Zukunft.
Wir glauben, daß der Augenblick nicht fern ist, da wir Orkane von Bewegungen in den Raum schleudern können, die am Lasso unserer Taktik hängen.
Es lebe die dynamische Geometrie, es leben die Abläufe der Punkte, Linien, Flächen, Volumina!
Es lebe die Poesie der bewegenden und sich bewegenden Maschinen, die Poesie der Hebel, Räder und stählernen Flügel, der eiserne Schrei der Bewegung, die verblendeten Grimassen glühender Strahlen.
Im Namen der ersten konstituierenden Versammlung der Kinoki.
Dziga Vertov 1922