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4.6 Fahren, fahren, fahren...

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Fahren, fahren, fahren... All dies wird zwar "im Film" erzählt. Aber wie für den Protagonisten, so gilt um so mehr für den Film, daß er erzählt wird und sich gleichzeitig darstellt. Die Darstellung seiner Bewegung selbst ist es, die die Erzählung abbrechen und über sich hinaus sein läßt. Die Flucht weicht also keineswegs vor einer Antwort aus. Sie ist die einzig verbliebene Möglichkeit, die Frage zu wahren, und deshalb wird sie dem Medium selbst anvertraut. Wie könnte es anders sein? Denn wenn die Kamera das Relais aller Bewegungen ist, so bedeutet das nicht, daß nur sie in Bewegung versetzt würde. Sie bewegt sich ihrerseits in einem bewegten Ensemble. Alle Momente des Filmemachens sind in dieses Ensemble eingegangen, um es den Bewegungen zurückgeben zu können, die sich in ihm aufzeichnen: "Ich kann eigentlich nur dadurch etwas bewegen, daß sich tatsächlich etwas bewegt. Und dann kann man sehen, wohin das rollt. Und nur in Filmen, in der Arbeit eines Films mit Bildern ist ein solcher Weg von etwas, was irgendwohin rollt, als Methode festzuhalten." 42 Und darin setzt sich ein Moment des Unbeabsichtigten frei, das zunächst wie ein Paradox erscheint. Die Bilder geben etwas zu sehen, was nicht kalkuliert sein kann, etwas Unvorhersehbares – also etwas, was sich "von selbst", im Wortsinn "automatisch" ereignet. Und dies löst zunächst die tradierten Formen und Repräsentanzen auf, den "Autor", den "Regisseur", die "Geschichte", den "Plot". Sie werden von einer Zeit durchkreuzt, die sich nicht erinnern und schon gar nicht beherrschen läßt. Und unmerklich kehrt damit auch das einzige wirkliche Thema des Kinos zurück: der Automatismus oder das Kino selbst als "geistiger Automat". Zwar spricht Wenders von einer Methode, doch krümmt sie sich hier ins Unbeabsichtigte, sie greift ihre eigene Stringenz an, um sich in jedem Augenblick dem Unvorhersehbaren preiszugeben.

Die Krise des Aktionsbildes, von der Deleuze spricht, rührt nicht zuletzt daher, daß die Affekte zu stark geworden sind, als daß sie noch in reguläre Bewegungen einer Sensomotorik durchgestellt werden könnten. Sie werden buchstäblich zu Gespenstern, zu Wiedergängern, die aus der nicht-erinnerbaren Zeit kommen und die Bewegung einer Logik der Aktion dadurch entreißen, daß sie immer neue Kombinationen bilden. Und deshalb erinnert Deleuze an Kafka und Wenders in einem Atemzug. "Kafka schlug Mischungen vor, Gespenstermaschinen auf Fortbewegungsmitteln; für seine Zeit war das ganz neu, das Telefon im Zug, Post auf einem Schiff, Kino im Flugzeug. Ist das nicht auch die ganze Geschichte des Films: die Kamera auf der Schiene, auf dem Fahrrad, die Luftbildkamera? Und das will Wenders, wenn sich in seinen frühen Filmen beide Reihen durchdringen. So gut es eben geht, könnten sich das Affektbild und das Aktionsbild gegenseitig stützen. Aber gibt es nicht noch einen anderen Weg zur Rettung des Affektbildes und zur Erweiterung der ihm eigenen Grenzen (wie er in The American Friend von Wenders skizziert wird)? Die Affekte müßten einzigartige, mehrdeutige und immer wieder neue Kombinationen bilden, und zwar so, daß die aufeinander bezogenen Gesichter sich gerade so weit voneinander abwenden, daß sie nicht zerfließen und verschwinden. Die Bewegung hingegen müßte den jeweiligen Stand der Dinge überschreiten und die Fluchtlinien gerade so weit verfolgen, um im Raum eine neue Dimension zu erschließen, die solchen Affektkompositionen offenstünde. Das ist das Affektbild: Seine Grenzen findet es am einfachen Angstaffekt und am Verlöschen der Gesichter im Nichts. Aber seine Substanz ist der aus Begehren und Verwundern zusammengesetzte Affekt, der ihm Leben verleiht und die Wendung der Gesichter zum Offenen, zum Lebendigen." 43

Uploaded Image: pfeil.gif 4.7 Die Initiation

  42 Wim Wenders: The Act of Seeing. Texte und Gespräche, Frankfurt/M.: Verlag der Autoren 1992, S.49.
43 Deleuze I, S.141f.






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