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2.4 Bewegung und Bild

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Bewegung und Bild. Zunächst: es gibt keine Bilder, die erst nachträglich in Bewegung versetzt würden; jede Rede von einem "bewegten Bild" wäre bereits eine Mystifikation; "der Film gibt uns kein Bild, das er dann zusätzlich in Bewegung brächte – er gibt uns unmittelbar ein Bewegungs-Bild." 11 Und wie könnte es anders sein? Denn woher stammt die Überzeugung, die Bewegung sei etwas, was an einem Punkt A einsetzen würde, um an einem Punkt B zur Ruhe zu kommen? Diese Vorstellung ist letzthin einer bestimmten Metaphysik verpflichtet, die Bewegung nur unter der Voraussetzung eines "unbewegten Beweger" denken kann und darin die Vorstellung eines aristotelischen Gottes perpetuiert. Das kommt selbst noch in einer Semiologie zum Tragen, die eine Schicht reiner, sich selbst transparenter oder präsenter Bedeutung unterstellen muß, ein "transzendentales Signifikat": dessen Funktion besteht darin, die Bewegung des Signifikanten zu kontrollieren, auf sich zulaufen und als reinen "Sinn" in sich selbst zur Ruhe kommen zu lassen. Und tradiert insofern nicht jede Semiologie einen theogenen Kern? Deleuze schlägt dagegen vor, im Innern solcher Theogonien Differenzen freizulegen, die mit der Geschlossenheit einer Weltordnung auch die Verfügungen über Bewegung, Bild und Wahrnehmung sprengen. Das Ganze ist Ganzes qua Bewegung, in der es sich nur erhält, indem es sich beständig verändert. Es "teilt sich beständig in die Gegenstände und fügt die Gegenstände wiederum zu einem Ganzen [tout]: 'alles' [tout] verändert sich im Übergang vom einen zum anderen. Andererseits enthält das Bewegungs-Bild Intervalle: bezieht man es auf ein Intervall, dann erscheinen unterschiedene Bildarten und gemeinsam mit ihnen Zeichen, aus denen sie sich zusammensetzen..." 12 – Insofern führt der Film zunächst eine Linie fort, die von Kepler über Galilei und Descartes zu Newton und Leibniz verläuft. An die Stelle transzendenter Formen oder Teleologien der Bewegung setzt er eine mechanische Abfolge beliebiger zeitlicher Momente. Zeit wird zur unabhängigen Variablen, die unterschiedliche Positionen eines Körpers im Raum definierbar und damit eine bestimmte Vorstellung von Bewegung anschreibbar macht. Doch so sehr sich der Film damit einer "naturwissenschaftlichen" Erfahrung aussetzt, so wenig reicht dies aus, um sein Wesen zu fassen. Denn gleichzeitig reproduziert er nicht eine Beliebigkeit zeitlicher Momente. Vielmehr arbeitet er mit "herausgehobenen Momenten", durchläuft er Intervalle einer anderen Zeitlichkeit – und von nichts anderem zeugt seine Genealogie, die Bilder in eine bestimmte Beziehung zueinander versetzt oder "montiert". Was aber erlaubt diese herausgehobenen Momente, wie gehen sie aus dem Bewegungs- Bild hervor, und wie brechen sie in seine Reihe beliebiger Zeitmomente ein? Deleuze unterscheidet zwischen der organischen Komposition der amerikanischen "Schule" (Griffith), der dialektischen Montage der russischen (Eisenstein, Pudovkin, Dovzenko), dem mathematisch Erhabenen des französischen Nachkriegsfilms (Gance) und dem dynamisch Erhabene im deutschen (Murnau, Lang). In allen diesen "Schulen" geht es, wenn auch in unterschiedlichen Formen, darum, die Übergänge des Bewegungs-Bildes auf ein Intervall zu beziehen, in dem sich das Bild von sich selbst trennt und in Beziehungen zu anderen Bildern übergegangen ist. Wie, so ließe sich deshalb die Frage zusammenfassen, die diese Kompositionsweisen durchläuft, konstelliert sich in diesen Übergängen das herausgehobene Moment? Natürlich, diese Frage ist keineswegs unvertraut. Unausgesprochen zitiert Deleuze die dritte Kritik Kants, sofern sie im "Erhabenen" nach der Möglichkeit des herausgehobenen Moments fragt. Bereits im "Erhabenen" hatte sich das Problem von Bewegung und herausgehobenem Augenblick nämlich im Horizont der Zeit gestellt. Es handelt sich, wie Kant erklärt, um die Zusammenfassung "des Sukzessiv-aufgefaßten in einen Augenblick", um einen "Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt, und das Zugleichsein anschaulich macht. Sie ist also (da die Zeitfolge eine Bedingung des innern Sinnes und einer Anschauung ist) eine subjektive Bewegung der Einbildungskraft, wodurch sie dem innern Sinne Gewalt antut, die desto merklicher sein muß, je größer das Quantum ist, welches die Einbildungskraft in eine Anschauung zusammenfaßt." 13 Insofern steuerte die konsekutive Zeitreihe im Zugleichsein auf einen Augenblick zu, in dem sich die Bewegung der Wahrnehmung nicht etwa fortsetzt, sondern als Anschauung des Zugleichseins kollabiert. Kant, der Filmemacher also: von Anfang an, wenn auch indirekt, kündigt sich mit dem Zugleich im Bewegungs-Bild eine bestimmte Zeitlichkeit an. Zwar ist die Zeitfolge Bedingung des inneren Sinns und der Anschauung; doch dazu muß sie von einer anderen Zeitlichkeit des Zugleichseins unterbrochen worden sein, das dieser Zeitfolge nicht untersteht. Bei Kant trägt sie den Namen des kategorischen Imperativs. Aber ordnet sich das "Erhabene", das aus dem Jenseits möglicher Wahrnehmung einbricht, um sich als Gesetz zu schreiben, nicht selbst noch um ein "transzendentales Signifikat"? Und wie könnte diese Heraushebung, die bei Kant antizipiert wird, unter Bedingungen des Bewegungs-Bildes werden?

Uploaded Image: pfeil.gif2.5 Differenz der Wahrnehmung

  11) Deleuze I, S.15.

12) Deleuze II, S.46.

13) Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Werke Bd.10, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, A 98-99.






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