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1.6 Das Kino Denken

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Doch darin erschöpft sich die Bewegung nicht. Im gleichen Maß, in dem sie sich den Teleologien des Narrativen entzieht, läßt sie eine ganz andere Dimension hervortreten, nämlich die der Zeit. Nach einigen Fragen an Gilles Deleuze und nach Fragen an Wim Wenders werfen die folgenden Überlegungen deshalb abschließend die Frage nach dem Zeit-Bild auf, wie sie von Deleuze vorgezeichnet wurde. Zwar spielt die Frage der Zeit bereits in der Ordnung des Bewegungs-Bilds eine bestimmende Rolle. Wo immer Bewegung ist, ist auch die Zeit im Spiel. Aber wie Deleuze zeigt, durchläuft das Kino im 20. Jahrhundert eine tiefgreifende Verschiebung vom Bewegungs- Bild zum Zeit-Bild. Geht die Zeit zunächst aus der Bewegung hervor, so steht der Film nach 1945 in wachsendem Maß vor der Frage einer Zeit, die ihrerseits Bewegungen aus sich hervorgehen läßt. Auf das "indirekte" Bild der Zeit folgt das "direkte". All dies hat nicht nur weit reichende Konsequenzen für Kadrierung, Schnitt und "Narration". Mit dem Zeit-Bild führen sich nicht nur völlig neue Bildtypen ein, die Deleuze in einer Phänomenologie des Kristallbilds analysiert. Ebenso wird es um neue Zeichen gehen, die mit dem Zeit-Bild auftauchen. Vor allem kehrt sich das Verhältnis von Bild und Zeichen auf der Ebene des Zeit-Bilds nämlich um. Nunmehr bedarf das Bild nicht mehr des Zeichens, um sich in ein anderes Bild zu verwandeln. Nunmehr sind es Einschnitte, die einen "absoluten Wert" (Deleuze) annehmen, indem sie Bilder aus sich hervorgehen lassen, die keine chronologische Abfolge mehr durchlaufen, sondern die a-chronologische Ordnung der Zeit selbst zu sehen geben. Und dies erlaubt nicht nur die Frage nach "den digitalen Zeichen"; dies fordert sie geradezu heraus. Zumindest sollen die folgenden Überlegungen die Hypothese präzisieren, daß die Frage eines "reinen Einschnitts", der in digitalen Technologien oder den "Immedialitäten" des Computers trans-medialen Bewegungen einer Entgrenzung des Medialen selbst freisetzt, intensive Korrespondenzen mit dem unterhalten, was bei Deleuze Zeit-Bild heißt.
Denn dies hätte für den Film und das Kino-Denken weit reichende Folgen. Sie bestehen nicht einfach darin, die analogen Produktionsmittel durch digitale zu ersetzen, um fortzufahren wie bisher. Sie stellen vor eine völlig neue Praxis und ein neues Denken von Bildern und Zeichen. Nicht umsonst spricht Wim Wenders davon, daß der Film mit den digitalen Technologien in eine tiefgreifende Umbruchssituation eingetreten ist, die vor völlig neue Fragen stellt. Dem entspricht ebenso die Feststellung Deleuze', daß sich das Kino unter digitalen Bedingungen entweder verändern oder sterben wird. Und deshalb geht es darum, mit dem Kino-Denken neu zu beginnen und dieses Denken aus einer anderen Praxis der Bilder hervorgehen zu lassen. Zwischen einem Medienkapital, das die Bilder in einen perversen Taumel ihrer Selbstzerstörung versetzt, und Vorstellungen eines "Autors", der sich auf die Unmöglichkeit seiner Selbstverwaltung zurückgezogen hat, wird es darum gehen, den Film auf seiner eigenen Höhe zu denken. Alles andere jedenfalls bliebe weit unter jenem programmatischen Niveau, mit dem Deleuze seine Analysen ausklingen läßt: "Eine Theorie des Kinos handelt nicht 'über' das Kino, sondern über die vom Kino hervorgebrachten Begriffe, die im Verhältnis zu anderen Begriffen stehen, die mit anderen Praktiken korrespondieren. Aus diesem Grund besitzt die Praxis der Begriffe gegenüber anderen Praktiken keinerlei Vorrecht, sowenig wie ein Gegenstand gegenüber anderen Gegenständen Vorrechte hat. Gleichgültig, ob es sich um Dinge, Wesen, Bilder, Begriffe oder um Ereignisse irgendwelcher Art handelt: sie alle bilden sich auf der Stufe der Interferenz mit einer Vielzahl von Praktiken. Die Theorie des Kinos zielt nicht auf das Kino, sondern auf die Begriffe des Kinos, die nicht weniger praktisch, wirklich oder existent als das Kino sind. Die großen Filmautoren sind vergleichbar den großen Malern oder Musikern: sie selbst sprechen am besten über das, was sie machen. Indem sie aber darüber sprechen, verändern sie sich und werden dabei zu Philosophen oder Theoretikern: sogar Hawks, der Theorien nicht ausstehen konnte, ja sogar Godard, der so tat, als würde er sie verachten. Die Begriffe des Kinos sind nicht im Kino 'gegeben'. Und dennoch sind es die Begriffe des Kinos und nicht Theorien über das Kino. So daß es immer, zwischen Mittag und Mitternacht, einen Augenblick gibt, in dem man nicht mehr fragen sollte: Was ist Kino, sondern: Was ist Philosophie?" 7

Uploaded Image: pfeil.gif2.0 Fragen an Deleuze

  7) Deleuze II, S.358.






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