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5.6 Fragen an Deleuze III

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Fragen an Deleuze III. Vielleicht zeigt sich hier – in einer Wendung, die den Namen "Heidegger" erwähnt und sofort wieder verläßt, um im Innern des Bergsonismus eine winzige, wenn auch entscheidende Verschiebung vornehmen zu können – , daß das Gedächtnis in seinem eigenen "Vorweg" selbst ebenso gründet wie differiert. Anders wäre nicht einmal das Gedächtnis zu denken. Dieses "Vorweg" hätte vor allem in jene Endlichkeit eingeführt, die auch das Gedächtnis skandiert haben muß. Sie wäre, was die Zeit zeitigt. Gewiß, wahrscheinlich würde Deleuze dies zurückweisen. Doch immerhin, nachdem er die großen Filmemacher als Philosophen bezeichnet hatte, zitiert er eine Stimme, die erklärt hatte, die Philosophen würden aus dem Tod geboren, um auf einen anderen Tod zuzugehen. Und Deleuze setzt hinzu, es handle sich eher um eine doppelte Wahrheit, "die nichtsdestoweniger zum Lachen verleitet: der Philosoph hält sich, zu Recht oder zu Unrecht, für jemanden, der von den Toten zurückgekommen ist und, mit vollem Recht, für einen, der zu ihnen zurückkehrt." 74

Die Fragen, die man an den "Lebens"-Begriff bei Deleuze stellen kann, verlassen damit keinen Augenblick den begrifflichen Horizont, den er selbst vorgibt. Mit dem Tod wird keine Leiblichkeit gedacht, deren Ende sich "bevorsteht". Endlich zu sein, wird vielmehr zur Wesensbestimmung der Existenz, und die Verschiebung des Bergsonismus besteht darin, die Funktion des Zukünftigen nicht mehr aus dem Gedächtnis hervorgehen zu lassen. Sie ereignet sich als Endlichkeit, die jede Gegenwart in sich begrenzt und gespalten hat. Zwar bleibt unbestreitbar, daß die Gegenwart vergehen muß, "damit die Ankunft einer neuen Gegenwart sich ereignen kann, und es ist gleichermaßen notwendig, daß sie im selben Augenblick vergeht, in dem sie gegenwärtig ist, im selben Augenblick, in dem sie dies ist. Folglich ist es notwendig, daß das Bild gegenwärtig und vergangen ist, noch gegenwärtig und schon vergangen, beides zur gleichen Zeit." 75 Doch ebenso unbestreitbar dürfte sein, daß dieser Riß sich zu schließen droht, wenn er nicht aus einer anderen Notwendigkeit als der des Gedächtnisses eintrifft. Tatsächlich gibt es bei Deleuze eine Tendenz, den Riß einzuebnen. Während er die Differenz der Zeit zum Vorschein bringt, spricht er zumindest noch immer vom "selben Augenblick", in der die Gegenwart "ist" und "vergangen ist". Stillschweigend bleibt also von einer Gleichzeitigkeit die Rede, die den Riß gleichsam umfangen hält. Und damit gerät der Ur-Sprung, die Differenz des Ur-Sprungs zu sich selbst ins Gleiten. Er scheint sich in der Gleichzeitigkeit einer Bewegung zu schließen, geht kaum wahrnehmbar in ein Kontinuum über, wo soeben noch von einer Differenz die Rede war: die Gegenwart ist "noch" gegenwärtig und "schon" vergangen, allerdings beides zur gleichen Zeit... Was aber "gibt" dieses Zugleich, oder worin "gibt" sich die Zeit als Bild? (Und wird man hier, wie bereits oben angedeutet, nicht doch das Zugleichsein des Filmemachers Kant konsultieren müssen, um noch Filme drehen zu können?)

Diese Frage könnte das "Zentrum" der Konzeption betreffen, die Deleuze nach dem Zeit-Bild fragen läßt, und vielleicht sogar ins Innere seiner Taxonomie des Films führen. Muß sich mit dem Zugleichsein nicht ein Schnitt eingeführt haben, der auch das Zeit-Bild als in sich gespalten oder geschnitten erst hervorbringt? Und eröffnet dies nicht erst die Zukunft? Dieser Schnitt hat gewiß nichts mit einem auktorialen Wissen darum zu tun, daß bereits der Transportmechanismus das Filmband dazu anhält, die Wahrheit in 24 Bilder pro Sekunde aufzuspalten. Nicht um technische Fragen des mechanischen Filmtransports geht es hier, was allerdings allzu salonfähig wäre, sondern um jene Differenz des Kristallbildes zu sich selbst, in der Deleuze das Virtuelle von Bewegungs- und Zeit-Bild gleichermaßen zu fassen sucht. Um das Sich-Ereignende behalten zu können und daraus den zukünftigen Gegenstand eines anderen Gedächtnisses zu machen, wie Deleuze sagt, wird sich das Ereignis eines Zukommens der Zeit bereits ereignet haben müssen, "vor" allem Gedächtnis oder als multipler Schnitt in der Dauer selbst. Zumindest insistiert bei Deleuze etwas, was diese Konsequenz unausweichlich zu machen scheint. "Zwischen den beiden Seiten des Absoluten, zwischen den beiden Toden, dem Tod des Innen oder der Vergangenheit, dem Tod des Außen oder der Zukunft, vermengen sich die inneren Schichten des Gedächtnisses und die äußeren Schichten der Wirklichkeit, setzen einander fort, schließen sich kurz und bilden ein ganzes bewegtes Leben, das zugleich dasjenige des Kosmos und des Gehirns ist, die beide von einem Pol zum andern Blitze schleudern. Man sieht, die Zombies singen ein Lied, aber es ist ein Lied des Lebens." 76 – Zwar könnte man meinen, daß es sich bei all dem nur um "philosophische Fragen" handelt. Doch das stellt sich nur auf einen ersten, oberflächlichen Blick so dar. Tatsächlich geht es um jene Begriffe, die der Film selbst hervorbringt, sobald sich das Zeit-Bild manifestiert.

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  74 Deleuze II, S.269.
75 Deleuze II, S.108f.
76 Deleuze II, S.269.






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