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4.9 Ende der Geschichte

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Ende der Geschichte. Und tatsächlich, "das ist ein schöner Titel für einen anderen Film: 'Die Rolle der Erinnerung'. Jeder Film beginnt mit Erinnerungen, jeder Film ist auch eine Summe aus vielen Erinnerungen. Auf der anderen Seite entstehen durch jeden Film viele Erinnerungen. Das Kino hat auch selbst viele Erinnerungen geschaffen." 48 Allerdings ist der Status dieser Erinnerungen nicht weniger zweideutig als der des Aktionsbildes. Denn auch die Erinnerung könnte sich zu einem Kreislauf schließen, der einem Stillstand gleichkäme. Zumindest wäre das bei einer bestimmten Konzeption der Erinnerung der Fall, die Deleuze in Hinsicht auf Wenders "hegelianisch" nennt: sie würde darin bestehen, den Kreislauf des Gewesenen zu durchlaufen, um sich des Wesens der Gegenwart als ebenso notwendiger wie vernünftiger zu versichern. Aber dann gäbe es nichts, was über den "Tod des Kinos" hinausweisen könnte. Die einzige noch verbliebene Aufgabe bestünde darin, diesen Tod in Bewegungen der Melancholie immer neu zu umschreiben, seine Vorgeschichte zu erzählen und als deren Wesen selbst zu enthüllen. Welche Rolle also spielt die Erinnerung? Ganz ausdrücklich taucht Wenders in Die Gebrüder Skladanowsky in die Schichten einer Vergangenheit ein, die jene des Kinos selbst sind. In Rollen des Kinos, in Bildern einer Erinnerung, die seine Geschichte aktualisieren, kommt der Film beständig auf sich zurück. Er wendet sich seiner eigenen Genese zu, er durchläuft Formen, in denen er sich selbst vorbereitet oder ankündigt. Doch dabei – und dies macht den Unterschied – kann es sich um eine chronologische Abfolge nicht mehr handeln. Wenders läßt unterschiedliche Erinnerungsbilder miteinander interferieren und in immer neuen Kombinationen auftauchen. Sie durchqueren die Erzählungen der alten Frau Skladanowsky, die Filmrollen oder Daumenkinos zeigt; sie inszenieren die Sujets neu, die 1895 im Berliner Wintergarten zu sehen waren; sie präsentieren diese Inszenierungen in Bildern, die mit einer alten Stummfilmkamera gemacht wurden; und in allen Stadien interferieren Schwarzweißund Farbbilder, rufen sie sich auf, gehen sie ineinander über, um in technisch erscheinenden Fragen solche der Zeit zu erreichen.

Was also bewahrt diese Bilder davor, einer Melancholie zu verfallen, die den Geist der Bewegung in unerreichbarer Nähe zu fixieren suchen würde? Zwischen einer "Rolle der Erinnerung", die sich abspulen ließe wie ein Film, und einer A-Chronologie, in der die konsekutive Abfolge der Bilder durcheinanderwirbelt, besteht kein "technischer" Unterschied, sondern einer des Wesens. An dieser Stelle setzt sich die Erinnerung allerdings einer alles entscheidenden Frage aus. Sie antizipiert bereits alle Probleme des Zeit-Bilds: denn steht die Erinnerung unter dem Regiment der "Gegenwart", oder setzt sich in ihr eine Virtualität frei, die stark genug wäre, diese "Gegenwart" selbst zu brechen? Letzteres würde jedoch eine Zeitlichkeit voraussetzen, die nicht von der Gegenwart beherrscht wird, sondern sie in bestimmter Hinsicht bereits überholt haben muß. Nur so könnte sie sich vor der Melancholie einer "hegelianischen" Aneignung der Bilder schützen. Und dies rührt an die Frage der Zeit in anderer Weise, woran Deleuze mit Mankievicz erinnert: "das Gedächtnis wäre niemals in der Lage, das Vergangene zu vergegenwärtigen oder wiederzugeben, wenn es sich nicht schon in dem Augenblick konstituiert hätte, als das Vergangene noch gegenwärtig war, wenn es also nicht auf die Zukunft gerichtet wäre. Gerade darin ist es ein Verhalten: in der Gegenwart bildet man sich ein Gedächtnis, um sich seiner in der Zukunft zu bedienen, wenn das Gegenwärtige vergangen sein wird." 49 Und deshalb wird auch die Erinnerung nicht aus der Krise des Aktionsbildes herausführen, so lange die Zeit noch immer von einer bestimmten "Gegenwart" her gedacht wird. Ganz offensichtlich wiederholt sich hier die Frage, die bereits das Aktionsbild betroffen hatte, auf einer Ebene der Erinnerung. Ganz so, wie die Aktionsbewegung dazu tendieren konnte, zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren, könnte das Erinnerungsbild dazu tendieren, als bloße Vorgeschichte einer Gegenwart zu erscheinen, um mit ihr abzuschließen. In beiden Fällen hat man es mit einer Unterdrückung der Zeit zu tun, die aus dem bestimmten Diktat einer "Gegenwart" hervorgeht: sie würde eine Aktionsbewegung ebenso wie Erinnerung nur zulassen, um ein "Ende der Geschichte" zu besiegeln – sei es in melancholischen Figuren einer gesuchten Heimkehr, sei es in melancholischen der Erinnerung.

Uploaded Image: pfeil.gif 4.9.1 Doppelte Grenze

  48 ebd., S.50.
49 Deleuze II, S.74f.






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