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4.7 Die Initiation

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Die Initiation. Aber darin besteht auch die Ambivalenz, die das Bewegungs-Bild durchzieht und selbst auf einer bestimmten Grenze ansiedelt. Wie in Goethes Wilhelm Meister, auf den sich Peter Handke in seinem Buch zu Falsche Bewegung stützte, setzt Wilhelms Reise bei Wenders als Bildungsgeschichte ein – doch nur, um sich immer neu ihrem Scheitern auszusetzen. Wie Wenders sagt: Wilhelm erzählt nicht, er wird erzählt, und zugleich stellt er sich dar. Erzählung und Darstellung, Erzählhandlung und Bewegungsbild, Narration und Exposition sind durch ein Intervall getrennt, das sich nicht schließen läßt. Stets reißt es neu auf – etwa in den Schreibschwierigkeiten, die Wilhelm vor sich herschiebt, um gegen Ende des Films darüber zu reflektieren, daß der Wunsch, zu schreiben, wichtiger sein könnte als das, was sich schreiben ließe. Sollte denn von einer Gleichzeitigkeit gesprochen werden können, in dem sich Erzählung und Darstellung noch aufeinander beziehen, dann im Sinn dieses Risses, in dem sich die nicht-erinnerbare Zeit wiederholt. Doch ebenso, und darin besteht die ganze Ambivalenz dieser Konstellation, wird sich dieser Riß noch in ein Anderswo der Bewegung übersetzen lassen, in dem die nichterinnerbare Zeit in Gestalten des Raums wiederkehrt. Zwischen einer Angst, die erstarren läßt, und einem "Verlöschen der Gesichter im Nichts" (Deleuze) sucht sich der Affekt in Fluchtbewegungen zu entlassen, die auf der Suche nach einem Ort ist. Auch Wenders spricht das unmißverständlich aus: "Wenn ich mir das anschaue, habe ich schon den Eindruck, daß da allmählich etwas bewußter wird, wo sich also am Anfang etwas noch selbst genügt hat – nämlich eine Bewegung – und das Unterwegssein an sich noch völlig reichte, um die Welt auszuhalten. Man kann auch sagen, daß etwas wie von einer Zentrifugalkraft nach außen getrieben, von irgend etwas weggetrieben wurde, von einem Zentrum, welches man vielleicht auch als Heimat definieren kann, und wo die Bewegung davon weg Genugtuung geschafft hat; wo gleichzeitig auch immer eine Reflexion über die Rückkehr zu diesem Zentrum ansetzt." 44 Die unmögliche Heimat steht sich insofern immer bevor, sei es als Ort ihrer eigenen Frage, sei es als Selbstverlust der Melancholie oder als Fluchtpunkt einer romantischen Einkehr. Und dies charakterisiert die mögliche Zirkularität dieser Bewegung. Die Bewegung definiert sich durch das Unerträgliche, das wie eine zentrifugale Kraft nach außen treibt, denn nur so läßt sich das Unerträgliche ertragen. Doch entgeht sie deshalb nicht schon einer Dialektik, die sich als Entzweiung in Gegensätze darstellt und insofern den Horizont möglicher Versöhnung wiederherstellt. Wie Wenders fortfährt, ist das "Reisen ist ja immer per Definitionem sowohl ein Sich-auf-etwas-Zubewegen als auch ein Sich-von-etwas-Wegbewegen. In meinem ersten Film gab es noch nicht viel Reflexion über diese beiden Bewegungen. Aber es wurde deutlich, warum das Reisen, das Sich-Wegbewegen wichtig ist, und damit taucht die Frage auf, ob man nicht auch zurückkommen kann und ob nicht letzten Endes in einer Rückkehr der Sinn der Reise gelegen hat: nämlich um Abstand haben zu können, um den Ausgangspunkt besser oder überhaupt erst sehen zu können." 45

Aber damit kehrt die nicht-erinnerbare Zeit selbst als Frage nach der Rückkehr wieder. Im Horizont des Ausgangspunkts kommt sie als Bewegung eines Sehens auf sich zurück, das nun zu sehen weiß. Es wird Reflexion, Spiegelung in sich. In der Heimkehr trifft sich das "Subjekt" des Sehens selbst, es sieht sich, indem es Bewegung in Wahrnehmung zurückgenommen hat. Dies allerdings markiert, wie Deleuze sagt, die Grenze, auf der sich das Affektbild bewegt. Einerseits sprengt es die sensomotorische Situation. Es unterminiert sie in vielfachen Intensitäten, die sich durch den Abstand definieren, in dem die Affekte sich zum Bewegungs- und Wahrnehmungsbild bewegen. Doch ebenso stehen das Affektbild kurz davor, zur Bewegung zurückzufinden oder sogar in eine Dialektik der Wahrnehmung einzugehen, die einer Heimkehr entspräche. Dann aber wäre die Bewegung zur Initiation geworden. Und deshalb schreibt Deleuze über die Affektbilder, mit ihnen sei "an die Stelle der Aktion oder der sensomotorischen Situation die Fahrt, das Herumstreifen (balade) und das ständige Hin und Her getreten. Das Umherziehen hatte in Amerika die materiellen und formalen Bedingungen für eine Erneuerung gefunden. Es wird aus äußerer oder innerer Notwendigkeit, aus einem Fluchtbedürfnis heraus unternommen. Allerdings verliert es nun den Initiationscharakter, den es in der deutschen Reise (noch in den Filmen von Wenders) hatte und den es trotz allem auch noch in der Beat-Reise (Easy Rider von Dennis Hopper und Peter Fonda) bewahrte. Wie sollte es auch irgendeine innere Verbindung, eine sensomotorische Struktur zwischen dem Fahrer aus Taxi Driver und dem geben, was er durch seinen Rückspiegel auf dem Bürgersteig sehen kann?" 46

Uploaded Image: pfeil.gif 4.8 Hegel und die Melancholie

  43 Deleuze I, S.141f.
44 Wim Wenders: The Act of Seeing, ebd., S.47.
45 ebd.






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