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Ansätze zur Phänomenologie des mechanischen Bildes

Von Jan M. L. Peters
Hamburger Filmgespräche III, Hamburger Gesellschaft für Filmkunde eV 1967
I
Die Photo-, Film- und Fernsehkameras produzieren Bilder, die im fast buchstäblich Sinne des Wortes ein Abglanz der Welt vor der Kamera sind. Das Licht, das die aufgenommenen Objekte abgeben, wird von der Kamera aufgefangen und fixiert für spätere Aufführungen oder unmittelbar auf dem Papier oder auf der Leinwand sichtbar gemacht, so daß diese Objekte sich im (Licht)-Schein verdoppeln oder wiederholen. Es ist die Kamera, das heißt: ein mechanischer Apparat, der diese Bilder herstellt, nicht der Mensch, der die Kamera bedient oder steuert. Mehr noch: es ist die Wirklichkeit selbst, die sich in oder mittels der Kamera abzeichnet. Daß es einen Menschen gibt, der die Kamera in Tätigkeit setzt, einen Standpunkt gegenüber den aufzunehmenden Objekten einnimmt, die Kamera auf die von ihm gewünschte Weise bewegt und versetzt, das aufgenommene Material noch bearbeiten lässt, und so weiter - das alles ändert nichts daran, daß die tatsächliche Aufzeichnung des Bildes ein mechanisches Verfahren ist. In dieser Hinsicht unterscheiden sich das Photo, das Filmbild und das Fernsehbild wesentlich von allen anderen Bildern, namentlich von den Erzeugnissen der bildenden Kunst. Die Zeichnung, das Gemälde oder das Bildhauerwerk wird vom Menschen gemacht und nicht von dessen Instrumenten. Und was ihr Schöpfer tut, kann man nicht vergleichen mit der Herstellung eines Abdrucks der Wirklichkeit, sondern kann man besser umschreiben als eine Übersetzung von Licht in die Materie, welche dem bildenden Künstler zur Verfügung steht: Farbe, Tinte, Marmor. Damit ist nicht gesagt, dan der Photograph, der Filmer oder der Fernsehregisseur keine Kunstwerke produzieren kann. Aber bevor seine Bilder eventuell Kunstwerke werden, sind sie ein mechanischer Abglanz. Das ist ihr gemeinsames Wesen: daß sie bestehen aus einem Schein, der von einem Apparat aufgefangen wird.
II
Schauen wir uns nun mal ein mechanisches Bild an, zum Beispiel eine Großaufnahme des Gesichtes eines Filmstars auf der Leinwand eines Kinos. Sehen wir nun wirklich ihr Gesicht? Eine rechtwinkelige Fläche von 24m2 gleicht nicht im entferntesten einem menschlichen Gesicht. Und dennoch sagen wir, daß Filmbilder ein naturgetreues Abbild der Wirklichkeit geben. Die riesenhaften Schatten auf der Leinwand haben jedoch nichts gemein mit dem wirklichen Gesicht, das der Kameramann vor dem Objektiv hatte. Eher können wir sagen, dan die Flache von 24 m2 wie eine Art Fenster fungiert und daß das Gesicht hinter diesem Fenster sichtbar ist: Das Lichtbild gleicht dem Gesicht nicht, weil das Gesicht sich in diesem Bild befindet (sozusagen nur ein “Teil” des Bildes ist). Sehen können wir das Gesicht jedoch immer noch nicht - aus dem einfachen Grunde, weil es nicht vor unseren Augen vorhanden ist; wahmehmbar für die Augen ist nur die mit Schatten bedeckte Leinwand, ein Ding also. Das Gesicht des Filmstars ist nur für unsere Einbildung oder Phantasie da, das heißt: als Vorstellung. In den Schatten auf der Leinwand stellen wir uns das Gesicht vor. Es ist uns nur auf diese Weise des Bildes gegeben., sagen wir also: auf imaginäre Weise. Objekt unseres Sehens (unserer visuellen Wahrnehmung) ist nur das Ding “Leinwand mit Schatten”; das Gesicht ist dagegen Objekt unseres Vorstellens. Das Filmbild (und jedes sonstige mechanische Bild) hat also einen wahrnehmbaren Aspekt oder eine wahrnehmbare “Schicht” - und einen vorstellbaren Aspekt oder eine Vorstellungsschicht. Und es gibt noch eine dritte Schicht: den Blick der Kamera (die Art und Weise, wie die Kamera ein Objekt aufnimmt). Dieser Kamerablick ist mit dem vorgestellten Gesicht nicht identisch, denn der Kamerablick kann sich ändern, während das Gesicht dasselbe bleibt (statt einer Großaufnahme kann man eine Totale des Film- stars machen). Er ist auch nicht identisch mit den Schatten auf der Leinwand, denn die Dimensionen der Leinwand können sich ändern, während das Blickfeld der Kamera dasselbe bleibt. Die Fläche der Leinwand ist nur die Projektionsfläche der Kameraper- spektive. Der Kamerablick ist uns, den Zuschauern, hauptsächlich gegeben als diese Perspektive, das heißt als eine Durchsicht durch das Fenster, hinter dem sich das Gesicht befindet. Man kann, wenn man sich ein Filmbild anschaut, die Illusion haben, daß man mit eigenen Augen durch ein völlig durchsichtiges Fenster nach dem sich dahinter befindenden Gesicht schaut. Tatsächlich jedoch schauen wir von einem Standpunkt, der in der Bildperspektive enthalten ist, also von einem imaginären Standpunkt, der dem Kamerastandpunkt gleichkommt. Das Bild enthält in seiner Perspektive die Sicht des Kameramannes oder Regisseurs. Sofern wir diese Sicht nicht übersehen, denken wir sie mit in der Vorstellung des abgebildeten Gesichtes. Fassen wir zusammen, was wir bisher festgestellt haben. Die drei von mir unterschiedenen Aspekte oder Schichten des Bildes korrespondieren mit den drei verschiedenen Intentionen des Zuschauers. Anders gesagt: Sie bilden die drei verschiedenen Weisen, auf die man ein Bild auffassen kann:
Das Bild als Ding, als Vorstellung und als Sicht bildet das Korrelat unseres wahmeh- menden, beziehungsweise vorstellenden oder denkenden Beschäftigtseins mit dem Bilde.
III Mit deln mechanischen Bild als Ding brauchen wir uns jetzt nur ganz kurz zu beschäf- tigen. Das Besondere des mechanischen Bildes in dieser Hinsicht ist, daß es - und das gilt speziell für das projizierte Bild: das Lichtbild - kaum eine Substanz hat. Es besteht ja nur aus Licht- (und gegebenenfalls aus Klang-)schwingungen. Es ist überdies oft an verschiedenen Orten gleichzeitig anwesend und nimmt da nicht immer denselben Raum in Anspruch. Das gleiche Bild kann eine Größe haben von 6 mal 9 Zentimetern oder von 6 mal 9 Metern - und man kann nicht behaupten, daß das eine Format das originale Bild enthalte und das andere eine Kopie. Und das Fernsehprogramm, das ich mir in meinem Wohnzimmer ansehe, ist nicht weniger original als das gleiche Programm im Hause meines Nachbarn. Tatsächlich beschäftigt der Zuschauer sich gewöhnlich nur dann mit dem Dingcharakter des mechanischen Bildes, wenn etwas daran fehlt: wenn die Wiedergabe eines Photos unscharf ist oder wenn der Filmstreifen während der Vorführung reißt. Normalerweise schaut er durch das Bild als Ding hindurch. In den Licht- und Klangschwingungen faßt er quasi unmittelbar das Abgebildete.
IV
Wir stellen uns also, durch das Bild als Ding hindurchschauend, in den Licht- und Klang- schwingungen das Abgebildete vor. In dem Bild ist das Abgebildete ein Vorgestelltes. Im Prinzip tun wir das Gleiche mit den bekannten Tintenklecks-Tafeln des Rorschach- Tests: Wir sehen, wenn wir uns die Tintenkleckse anschauen, keine Ballettänzerinnen und keine Fledermäuse, sondern stellen uns diese Personen oder Tiere in den Tinten- klecksen vor. Der Unterschied ist nur der, daß wir beim Betrachten eines Photos oder eines Film- oder Fernsehbildes, im Gegensatz zu den Tafeln des Rorschach-Tests, nicht unsere eigenen, ganz persönlichen Vorstellungen in die Bilder hineinprojizieren können. Wir können uns in den Licht- und Klangschwingungen des mechanischen Bildes nichts anderes vorstellen als das, was vor der Kamera gestanden hat. Anstatt uns aus den Sinneseindrücken selbst eine Vorstellung zu formen, erscheint die Vorstellung uns im mechanischen Bild fix und fertig. Wenn wir zum Beispiel in Wirklichkeit eine Landschaft wahrnehmen, ist es unser Blick, der die Wirklichkeit enthüllt. Es ist der Akt unseres Sehens, der die Bedeutung der Landschaft für uns begreift, so wie das Wort diese Bedeutung benennt. Indem wir uns die Landschaft anschauen, bekommen wir einen Griff auf die Landschaft. Indem wir dem Gesehenen einen Namen geben, wird dieser Griff fixiert und hantierbar gemacht. Im mechaniscben Bild jedoch geht die Welt sozusagen unserem Blick voran. Die Welt ist schon da, unabhängig von unserem Sehen. Wir bauen mit unseren Blicken die Landschaft nicht auf, wie wir mit dem Aussprechen oder Lesen der Wörter die Wort gewordene Welt auffassen, sondern die Landschaft spricht sich im mechanischen Bild selbst aus. Zeit und Raum objektivieren sich, sie existieren unabhängig von unserem Sehen. Anstatt mit unserem Blick einen Griff auf die Welt zu haben, hat die Welt uns in ihrem Griff. Wir selbst “komponieren” die Welt nicht mehr, damit sie begreiflich wird, sondern der Kamerablick komponiert sie für uns. Beim mechanischen Bilde “bilden” wir uns nichts “ein”, sondern es bildet uns etwas vor! Deshalb fasziniert das mechanische Bild uns: Unser Sehen ist nicht länger ein eigenes Urteil über die Welt; die Welt erklärt sich selbst und macht uns träge, passiv. Diese Passivität - die einzige Art der Passivität, die von Maletzke in seinem bekannten Aufsatz “Passivität durch Fernsehen” nicht genannt wird! Kann aber auch bedeuten, daß das mechanische Bild uns passioniert. Das heißt: daß das im Bilde vorgestellte Objekt sehr leicht unsere Gefühle erregt. Nehmen wir zum Beispiel die Photographie einer geliebten Person. Weshalb vermag das Photo uns zu rühren? Nicht, weil es ein so nettes Stück Papier ist. Gewiß aber, weil wir uns die Person im Photo als rührend vorstellen. Auch weil die Person im Photo uns fasziniert, uns passiv macht in dem Sinne, daß wir beim Vorstellen der abgebildeten Person keine aktive Rolle zu spielen haben, so dann uns eigentlich gar nichts anderes übrig bleibt, als uns von der Person im Bilde rühren zu lassen. Am deutlichsten stellt sich das heraus beim Pin-up-Bild. Das schöne Mädel auf einem solchen Bild ist zwar nicht in natura für uns gegenwärtig, es drängt sich aber in effigie so stark unserem Blick auf, daß unsere erotischen Gefühle - wenn sie schon auf der Suche sind nach einem konkreten Objekt, auf das sie sich richten können - vom Pin up-girl erregt werden. Das nicht-mechanische Bild, eine Zeichnung zum Beispiel oder ein gemaltes Bild, wirkt in einer ganz anderen Weise. Es fasziniert nicht in dem hier gemeinten Sinne und zieht deshalb unsere Gefühle auch nicht unwiderstehlich an. für pornographische Zwecke taugt das nicht-mechanische Bild viel weniger als das mechanische, wie ja wohl die Praxis deutlich beweist.
Weil es uns fasziniert und passioniert, kann das mechanische Bild - im Photomagazin, im Spielfilm, im Fernsehprogramm - grundsätzlich seine Unterhaltungsfunktion erfüllen. Oder vielleicht kann man besser sagen, daß die Produkte des mechanischen Bildes weitaus die Mehrzahl bilden unter den Produkten der Unterhaltungsindustrie. Dies läßt sich grundsätzlich aus dem hier entwickelten Begriff der Faszination und Passionierung erklären. Unterhaltung oder “Amusement” bedeutet hier, daß die mechanischen Bild- produkte imstande sind, einen emotionalen Kreislauf beim Zuschauer hervorzurufen. Unsere Gefühle - sagen wir noch einmal: unsere erotischen Gefühle - suchen ein konkretes Objekt, damit sie sich konkretisieren können. Wir stellen uns nun das Pin-up-girl im Bilde als aufreizend vor - und lassen uns sodann durch das Vorgestellte aufreizen. Dieser emotionale Kreislauf bildet nun gerade das Unterhaltende: Das Vergnügen der Unter- haltung durch das mechanische Bild besteht geradezu im “emotionalen Kreislauf”. Das gilt sogar für die an sich unangenehmen Gefühle wie Angst, Mitleid, Spannung, Kummer, Zorn. Wenn diese Gefühle beim Sehen eines Spielfilms bei uns ausgelöst wer- den, haben sie ja keine echten Objekte, es sind nur imaginäre Objekte, Personen, Ereig- nisse, Situationen. Weil es keine realen Sachen und Menschen gibt, deretwegen wir uns ängstigen, sind auch unsere Gefühle rein imaginär. Wir weinen bei einer tragischen Szene nur Krokodilstränen. Wir bilden uns nur ein, daß wir Angst haben, aber diese Einbildung kann sehr autosuggestiv wirken. Wir “spielen” unsere eigene Angst so suggestiv, daß wir selbst daran glauben.
V
Das Bild als Ding, das Bild als Vorstellung - und jetzt das Bild als Sicht: der Kamerablick. Vielfach ist der Kamerablick kaum mehr als ein optisches Instrument. Das ist die erste Funktion des Kamerablickes: Mittels des Kamerablickes können wir ein Objekt sehen, das sich nicht in natura in unserem eigenen realen Raum (in unserem Verhaltensfeld) befindet. Das Blickfeld der Kamera eröffnet uns ein Fenster auf die Welt, und dieses Fenster ist ganz und gar durchsichtig: Es fällt selbst gar nicht auf. Es hat auch nichts zu bedeuten, es gibt uns nicht im geistigen Sinne die subjektive Sicht des Photographen oder Regisseurs, obwohl es das im optischen Sinne dennoch tut. Obwohl auch im optischen Sinne eine Art Übersetzung stattfindet der Licht- und Toneindrücke, die das Objekt vor der Kamera abgibt an das Material, aus dem das mechanische Bild besteht. Aber dieses Material besteht auch wiederum aus Licht- und Toneindrücken, mag ihre “Definition” im Sinne der Informationstheorie auch geringer sein als die des Originals. Die Übersetzung in ein anderes Material spielt deshalb kaum eine Rolle. Während aus der Übersetzung des Originals in das Material des Bildes in der bildenden Kunst immer eine gewisse Deformation des vorgestellten Objektes resultiert, läßt der Kamera- blick das abgebildete Objekt unverletzt. Die Kamera ist nämlich kein Subjekt, sondern sie hat ein Objektiv. Das ist die Ursache der Faktizität des mechanischen Bildes. Ich meine damit, daß dasjenige, was in einem Photo oder in einem Film- oder Fernsehbild abgebildet ist, vom Zuschauer erfahren wird als faktisch, als etwas, das wirklich vor der Kamera gestanden hat, als die Aufnahme gemacht wurde. Faktizität bedeutet hier: der Zuschauer erkennt, dan das Vorgestellte prinzipiell in natura wahrnehmbar ist oder war. Pawek hat darauf hingewiesen, daß ein Photo Beweiskraft hat. Beim Pferderennen kann ein Photo oder eine Filmaufnahme beweisen, wer gewonnen hat; eine Zeichnung natürlich nicht. Faktizität bedeutet also: Das Objekt im mechanischen Bild ist “fast” wahmehm- bar; es ist quasi-wahrnehmbar (obwohl es nur auf imaginäre Weise gegeben ist). Deshalb fällt es uns auch schwer zuzugeben, daß wir das Objekt im mechanischen Bild nicht sehen können. Denn in manchem Bild schaut die abgebildete Person uns an! Obwohl sie sich nicht in unserem Verhaltensfeld, in unserem realen Raum befindet, obwohl sie nur imaginär da ist und sich also auch in einem imaginären Raum befindet, schaut sie uns regelrecht ins Gesicht. Wie kann sie uns nun ins Gesicht schauen, wenn wir sie nicht sehen, wenn sie sich nicht in unserem Wahrnehmungsraum befindet? Wir wissen natürlich, daß der photographierte Mensch tatsächlich nur der Aufnahme- Kamera ins “Gesicht” geschaut hat, und wir müssen daraus schließen, daß wir ihn aus der Perspektive der Kamera sehen, also von einem imaginären Standpunkt. Jede ein- zelne Person in einem Saal nimmt eine andere reale Position ein, unsere imaginäre Position aber ist für alle dieselbe. Deshalb schaut der Abgebildete uns alle an, ob wir nun links vorn oder rechts hinten im Saal sitzen. Als ein optisches Instrument hat der Kamerablick also diese merkwürdige Eigenschaft, daß er uns in den Bildraum ver- setzt und daß wir das Objekt in diesem imaginären Raum sehen aus der Perspektive des Bildes.
VI
Der Kamerablick fungiert als ein optisches Instrument nur, wenn das Blickfeld des Zu- schauers mit dem Blickfeld der Kamera zusammenfällt. Das ist, obwohl der Zuschauer sich dies oft nicht klarmacht, nur ausnahmsweise der Fall. Der Kamerablick divergiert oft vom Zuschauerblick, auch wenn der Zuschauer sich dessen nicht immer bewußt ist. Am meisten fällt diese Divergenz auf, wenn die Kamera die Bewegungen der Objekte und den ganzen Ablauf des Geschehens vor der Kamera nicht verfolgt, wenn sie - während sie sich bewegt oder einen anderen Standpunkt wählt - nicht mitgeht mit den Veränderungen, die sich vor der Kamera abspielen, also wenn der Bildwechsel nicht parallel läuft zur wechselnden Richtung der Aufmerksamkeit des Zuschauers. Zum Bei- wird mit einem Schwenk nach rechts, die Kamera im Gegenteil einen Schwenk nach links ausführt. In diesem Fall wird der Kamerablick vom Zuschauer aufgefaßt als der Blick einer “dritten Person”. Statt selber zu sehen, was im Bilde vorgeht, wird uns etwas vorgehalten, macht eine dritte Person - der Filmregisseur - uns auf etwas aufmerksam. Damit wirkt der Kamerablick schon als ein Zeichen, wird er ein Mittel zur Formulierung einer Hin- weisung, eines Urteils, einer Mitteilung. Wir Zuschauer stellen uns die abgebildeten Objekte und Ereignisse vor aus der Sicht des Kameramannes oder des Regisseurs. Und in dieser Sicht ist die Art und Weise, wie er das Abgebildete auffaßt und begreift, ent- halten. Das Bild und die Bilderreihe sind demnach eine “Aussage” dieses Regisseurs. Der Kamerablick ist das Prädikat dieser Aussage, das im Bild vorgestellte Objekt ist das Subjekt; das Ganze, das heißt die Einheit von Kamerablick und vorgestelltem Objekt, ist ein “Satz” oder eine Satzfolge. So wie die Formen der Wortsprache ein Intermediär sind zwischen dem Leser (oder Hörer) und der Welt, auf die in den Wörtern verwiesen wird, so ist der wechselnde Kamerablick ein Intermediär zwischen Zuschauer und Vorstellungswelt der Bilder. Der Kamerablick und die Veränderungen des Kamerablickes (die Bildfolge also) sind - wie die grammatischen und syntaktischen Kategorien - an sich leere Formen, die sich anwenden lassen, um eine Sicht auf die Welt (ein Urteil über Menschen und Dinge) zur “Sprache” zu bringen.
Damit will ich sagen, daß der Sprachcharakter des Films (oder auch des Fernsehens) seine Ursache und sein Prinzip besitzt in der Tatsache, daß die Sicht des Kamerablickes sozusagen frei ist von der Vorstellungssicht des Bildes - und daß dieser freistehende Kamerablick als das Urteil einer “dritten Person” aufgefaßt werden kann. Und zugleich läßt sich daraus schließen, daß sich in dieser Bildsprache nur dasjenige sagen läßt, was sich als eine Sicht denken läßt. Nur was sich als eine Sicht, als eine optische oder auch akustische Verhaltensweise der Welt gegenüber denken läßt, kann man in dieser Bild- sprache aussagen. Und noch eine zweite Konklusion: Wenn die Sicht des Kamerablickes nicht nur als ein optisches Instrument im vorher genannten Sinne verwendet wird, sondern (auch) als ein Intermediär zur Formulierung von “Aussagen”, dann wird das Sehen eines Films oder eines Fernsehprogramms ein mitdenkendes Sehen statt eines passiven Fasziniert-Werdens von der Vorstellungssicht der Bilder. Die Komposition der Objekte vor der Kamera ist jetzt weniger wichtig als die Komposition (darunter der Rhythmus) des Kamerablickes. Die Erzählweise der Kamera (das heißt des Regisseurs), die “Stimme” sozusagen des Filmautors, wird wichtiger als das Geschehen, von dem erzählt wird. Im Bereich der Filmkunst (und Fernsehkunst) stellt die Anwendung dieses Prinzips der Bildsprache an die Inszenierung und das Spiel der Schauspieler im Spielfilm (oder Fernsehspiel) besondere Anforderungen. Im Gegensatz zu einem Dokumentarfilm bildet der Spielfilm ein Beispiel eines Bildes im Bilde oder einer Bilderreihe in einer Bilder- reihe. Die Schauspieler und die Dekorationen bilden eine menschliche Handlung ab, und diese wird von der Kamera abgebildet. Wenn nun der Kamerablick als eine “Aussage” fungiert, würde der Spielfilm oder das Fernsehspiel wirken wie eine Interpretation des Spiels oder der Dekoration, oder wie eine Betrachtung über die Aufführung des Schau- spiels. Die Kamera erzählt uns dann nicht die Geschichte Hamlets, sondern sie erzählt uns, wie zum Beispiel Gustaf Gründgens den Hamlet gespielt oder inszeniert hat. Will man diese Schwierigkeit vermeiden, so müssen das Spiel der Schauspieler und die Dekoration entbildlicht werden. Das Bild vor der Kamera also muß dann nicht mehr als ein Bild wirken, sondern als die Wirklichkeit. Eine derartige Entbildlichung (oder “Adaption”) betrifft nicht nur die Mimik und Gestik der Schauspieler und nicht nur die Unechtheit der Dekoration, sondern auch das physische äußere der Schauspieler, den ganzen dramaturgischen Bau der Geschichte und den Dialog. In dem Maße, wie der Kamerablick zu einer Sprachweise wird, ergibt sich am Geschehen vor der Kamera diese Anforderung der Entbildlichung. Es besteht in dieser Hinsicht - in großen Zügen gesagt - ein bedeutender Unterschied zwischen dem traditionellen und dem modernen Spielfilm. Der erstere ist immer noch bis zu einem gewissen Grade ein Schauspiel, das bedeutet hier: ein Bild vor der Kamera. Und obwohl die Kamera natürlich oft schon erzählt und interpretiert, bleibt der Bildcharakter des Schauspiels vor der Kamera, immer mehr oder weniger deutlich anwesend. Im modernen Film, da wo die Handlung der Kamera wichtiger wird als die Handlung vor der Kamera, verschwindet das Bildhafte des Schauspielers vor der Kamera mehr und mehr. Aus einem Schauspiel macht der Film eine Schreibweise.
VII
Die Bildsprache, so wie ich sie hier verstehe, hat (wie die Wortsprache) auch einen poetischen Aspekt. Das Kennzeichen der Prosa ist, daß die leeren Formen (über die ich gesprochen habe) - sagen wir zum Beispiel die Konjugationsformen des Verbums, die Pluralformen oder die Wortfolge - an sich genommen ganz verschwinden hinter ihren Bedeutungen. In der Poesie jedoch hat das Wort auch als Klang oder als visuelle Gestalt einen Wert. Etwas derartiges bietet sich nun auch dar in der Bildsprache, und “Photogenie” bezeichnen kann. Ein geschickter Photograph macht aus jeder Frau das Bild einer Frau; er macht sie im buchstäblichen Sinne “bildschön”. Im alltäglichen Sprachgebrauch nennt man eine Person “photogen”, wenn sie sich gut photographieren läßt; man kann aber auch die Photo- graphie selbst “gen” nennen, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß die Photographie selbst etwas “generiert”, etwas zum Vorschein bringt, dem Menschen vor der Kamera etwas hinzufügt, was dieser von sich aus nicht besitzt. Das “Geniale” des Photos besteht nun darin, daß bestimmte Eigenschaften des Kamerablickes in die Objekte, die sich vor dem Objektiv befunden haben, eingehen. Wenn wir Autos im Verkehr mit 8 Bilden pro Sekunde aufnehmen und diese Aufnahmen später mit 24 Bildern pro Sekunde auf der Leinwand vorführen, so schauen wir nicht schneller nach den mit normaler Geschwindigkeit fahrenden Autos, sondern wir schauen mit unserer normalen Seh-Geschwindigkeit nach schneller fahrenden Autos. Das bedeutet, daß die Aufnahmeschnelligkeit des Kamerablickes (also eine Eigenschaft des Kamerablickes) eine Eigenschaft der aufgenommenen Objekte geworden ist. Auf diese Weise kann jede Eigenschaft des Kamerablickes - die Kameraperspektive, die Kamerabewegung, die Blickweite des Objektives, die Blickschärfe, die Eigenart des Negativmaterials, die Aufzeichnung des Tons, die Bildfolge und so weiter - in die Menschen, Dinge und Ereignisse vor der Kamera eingehen und diesen damit Qualitäten verleihen, welche sie aus ihrer eigenen Natur heraus nicht besaßen. Aus großer Entfernung aufgenommen, wird ein Mensch zu einem Menschen, der einsam und verlassen ist. Eine sehr geringe Entfernung macht ein Gesicht für den Zuschauer abstandslos, gibt diesem Gesicht eine große Intimität. Von unten, und dann noch mit einem Weitwinkel aufgenommen, wird ein dickbäuchiger Mann noch dickleibiger. Die Kamerabewegung kann Häuser und andere statische Objekte in Bewegung setzen. Eine schnelle Montage von ruhigen Vorgängen macht diese Vorgänge hastig und schnell und so weiter. Wie der Titel dieses Aufsatzes schon andeutet, sind mit den vorhergehenden Erörterungen nur Ansätze zu einer Phänomenologie des mechanischen Bildes gegeben. Diese müßten weiter ausgearbeitet werden, damit unsere Betrachtungen über die Funktionen und Bedeutungen der Photographie, des Films und des Fernsehens als eines Unterhaltungsmittels, eines Kommunikationsmittels oder einer Kunst einen festen Grund bekommen.