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SchreibNetz_neu


Von: Yvonne Fietz
Am: 2.10.2003
Liebe Tatjana,

> Was ich am Wochenende diskutiert habe war, dass Isolation das Hauptproblem
> vieler Menschen bei uns ist und das die Frage nach der eigenen Identität die
> Hauptfrage ist. Ich glaube auf beides kann der Chat Antworten geben.
Das glaube ich auch. Der Mensch ist nicht gern allein und sie/er möchte wissen, wer sie/er ist. Die heutige Gesellschaft richtet alles nur auf eine scheinbare Befriedigung dieser menschlichen Grundbedürfnisse aus, instrumentalisiert sie, um Geld und Macht anzuhäufen, aber regt in keiner Weise einen »kultivierten« Umgang mit ihnen an und fördert auch keine Entwicklung von Umgangsformen, die dem menschlichen Miteinander dienen.

Den Chat sehe ich als Medium mit umstürzlerischem Potenzial an, weil er allein durch die kollaborativen Schöpfungsprozesse der Produktbezogenheit des ökonomischen Verwertungsinteresses entgegensteht. Wo kein Produkt, sondern ein Prozess, wo kein einzelner Produzent/Künstler, sondern eine BilderChat-Gemeinschaft - da beißt sich die Ökonomie die Zähne aus.


> Nicht nur denken, sondern handeln ist -glaube ich - die Devise jeder
> Künstlerin, sonst wäre sie ja Philosophin geworden. :-))
Ich bin ja schon auch ein Kopfmensch - einerseits. Andererseits bin ich eine kreative Praktikerin. Beim SchreibNetz-Projekt ist mir klar geworden, dass ich beides will: theoretisch-konzeptionelle Auseinandersetzung und künstlerische Praxis. D. h. ich verorte mich in einem theoretischen Feld, leite daraus mein ureigendstes Konzept ab und versuche dieses Konzept dann in die Praxis umzusetzen. Theorie/Konzept und Praxis wirken dabei natürlich permanent aufeinander ein.

Bei tune IV (Improvisationen in der HafenCity) fragte mich ein Künstler, was ich denn sei. Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte...

> Ich bekomme immer allergische Anfälle, wenn Joseph Beuys, ›jeder Mensch ein
> Künstler‹ zitiert wird. Da mir u.a. bei der anthroposophischen Sicht der
> Welt die Widersprüche und Spannungen zu der Zurichtung der Menschen für die
> kapitalistische Produktion zu wenig Beachtung finden.
Auf Beuys kommt es mir nicht an. Wichtig ist mir nur, dass beim BilderChat jede/r ein Künstler/in ist. Dass an dem Chat nicht nur - wie auch immer - ausgewiesene Künstler/innen teilnehmen dürfen oder etwa Nicht-Künstler/innen mit einer/einem oder mehreren Künstler/innen chatten »dürfen«.

> Diese Zurichtung hat wiederum etwas mit dem Problem der Isolation und
> Identität zu tun.

Für Schmid ist die Lebenskunst »grundsätzlich die Sache von Individuen«, sie ist jedoch »nicht eine rein individuelle Angelegenheit, denn sie braucht, um sich entfalten zu können, Andere und die Gesellschaft; sie braucht Verhältnisse, für die ein Individuum nicht allein sorgen kann. Daher ist Lebenskunst auch eine gesellschaftliche Angelegenheit.« (SW 11)

»In der Moderne leben die Individuen weiterhin nur für sich selbst und träumen zugleich vom Einssein mit Anderen, mit einem geringeren Anspruch will sich keiner zufrieden geben. Also leben die Menschen enttäuscht, allein mit ihrem Glück, das keines ist, unfähig zum Leben mit Anderen, das immerzu scheitert, da es den Kriterien des Einsseins nicht genügt.« (SW 23-24)

Die »Anderweite« erscheint mir ein wesentlicher Bestandteil des »bewusst gewählten Modus der Existenz« im Sinne einer Lebenskunst-Prxis zu sein, da sie die tragische Ambivalenz des modernen Individuums zwischen den Traum vom Einssein mit dem Anderen und das Nur-für-sich-selbst-sein reflektiert. Im BilderChat changiert der Text- und Bildfluss zwischen kollaborativem Prozess und Zuspitzung und und Verdichtung durch Einzelne. Wenn man sich Antjes Gedanken-Sammlung zum BildChatten ansieht, findet man viele Aspekte dazu.

Für mich leitet sich aus diesen Morgengedanken die Frage ab, welche Gestalt ein Kunstprojekt haben könnte, bei dem der BilderChat eine zentrale Rolle einnimmt.

Eine Idee:
>> Benutzeroberfläche, in die automatisch aktuelle, themenbezogene, bildhafte
>> etc. Konglomerate aus dem Netz gesogen werden, die ähnlich den Kunst- und
>> Wunderkammern den Benutzer/innen der Seiten einen Ausgangspunkt / eine
>> Anregung für Conversationen via BilderChats bieten.
Im »bewusst gewählten Modus der Existenz« sollte es jedem Menschen offen stehen, jederzeit zu einem Themenfeld ihrer/seiner Wahl mit Anderen zusammen bilderzuchatten. Es ist so wie die Salonkultur: Räume, in denen Menschen mit einem Anliegen zusammen kommen, verwandte »Seelen« suchen und gemeinsam schöpferisch tätig sind. Daraus leitet sich für mich ab, dass das Kunstprojekt seine »Heimat« im Internet haben wird.

>> Programmierung einer virtuellen Kunst- und Wunderkammer spiegelt jedoch
>> nicht das Weltbild eines absolutistischen Herrschers wider, sondern lädt zum
>> »bewusst gewählten Modus der Existenz«: »Formulieren von Lebensfragen, für
>> das Innehalten und Befragen seiner selbst und der eigenen Zeit, schließlich
>> für die Arbeit an sich selbst und die Ausarbeitung einer Lebenskunst.« (WS,
>> 25)
Die Programmierung spiegelt vielmehr eine Auseinandersetzung mit Fragen nach der Identität und der Isolation bzw. dem Traum von Einssein wider und regt sie zugleich bei den Nutzer/innen an. Ich stelle mir Text-Bilder-Räume vor, die durch Suchmaschinen-Programmierungen gefüllt werden. Cornelia Sollfrank von den old boys network obn.org hat mal vor Jahren verschiedene Personen automatische Webseiten-Generatoren programmieren lassen. Interessanterweise sind drei völlig unterschiedliche Generatoren dabei herausgekommen – auch die Programmierung selbst ist ein kreativer Akt! Eine Programmierung hat aufgrund von Begriffen, die die/der Nutzer/in eingegeben hat, Webseiten mit aus dem Netz gezogenen Bildern und Animationen gefüllt. Jahre bevor Google seine Bildersuche hatte, habe ich mir mithilfe dieses kleinen »Tools« Anregungen und Inspirationen aus dem www gezogen.

Ich begreife diese Text-Bilder-Räume als Anregungen für BilderChats. Die Kunst- und Wunderkammern bündelten Ausdrucksformen der Anschauungen des Souveräns. Der BilderChat-Raum bündelt Ausdrucksformen einer Lebenskunst, die sich mit Fragen nach der Identität und der Isolation bzw. dem Traum von Einssein auseinandersetzt.

Soweit erstmal, es ist jetzt gleich 10.40 Uhr und vielleicht chatten wir gleich weiter?

Fragt sich und grüßt herzlich
Yvonne






>> Von: Yvonne Fietz
>> Datum: Thu, 25 Sep 2003 12:16:17 +0200
>> An: Tatjana Beer
>> Betreff: Re: [SchreibNetz-Info] 2.10.03 (!) um 11.00 Uhr
>>
>> Liebe Tatjana,
>>
>>> was hälst Du von dem 9.10. um 11.00?
>> das ist ein guter Tag!
>> Chatten wir drauflos!
>>
>> Ich habe im Urlaub »Philosophie der Lebenskunst« von Wilhelm Schmid (WS)
>> gelesen, in der Hoffnung, fürs Bilderchatten einen weiteren philosophischen
>> Input zu finden. Kurz-Ergebnis: Nicht nur drüber nachdenken, sondern auch
>> tun: Der künstlerische Bilderchat als Ort der Lebenskunst.
>>
>> »Die Formel Joseph Beuys, ›jeder Mensch ein Künstler‹, meint nichts anderes
>> als dies, dass jeder zum Künstler werden und das eigene Leben zum Kunstwerk
>> machen kann.« (WS, S. 75)
>>
>> »Wie kann ich mein Leben führen?«
>> »Fragen über das Dasein des Menschen, das Wesen des Seins, die Strukturen
>> der Welt, die Möglichkeiten von Erkenntnis - aber eben auch schichte Fragen
>> von der Art: Worin besteht mein leben? Und vor allem: »Wie kann ich mein
>> Leben führen?« (SW, 27) sind Fragestellungen der Lebenskunst, die im
>> BilderChat als »bewusst gewählter Modus der Existenz« eingeübt werden können
>> - wobei die Regelmäßigkeit, der Wechsel zwischen den Perspektiven, zwischen
>> Bild und Text, ... womöglich eine Veränderung auf das leben der Beteiligten
>> nehmen könnte
>>
>> BilderChat-Projekt (Server-Festival-Kooperation)
>> Benutzeroberfläche, in die automatisch aktuelle, themenbezogene, bildhafte
>> etc. Konglomerate aus dem Netz gesogen werden, die ähnlich den Kunst- und
>> Wunderkammern den Benutzer/innen der Seiten einen Ausgangspunkt / eine
>> Anregung für Conversationen via BilderChats bieten.
>> Programmierung einer virtuellen Kunst- und Wunderkammer spiegelt jedoch
>> nicht das Weltbild eines absolutistischen Herrschers wider, sondern lädt zum
>> »bewusst gewählten Modus der Existenz«: »Formulieren von Lebensfragen, für
>> das Innehalten und Befragen seiner selbst und der eigenen Zeit, schließlich
>> für die Arbeit an sich selbst und die Ausarbeitung einer Lebenskunst.« (WS,
>> 25)
>>
>> Die Lebenskunst ist eine gesellschaftliche Angelegenheit. »Sie bestärkt ...
>> das einzelne Individuum in seiner Selbstaneignung und Selbstmächtigkeit, um
>> einer Zumutung von Außen und einer Beherrschung durch Andere entgegentreten
>> zu können.« (WS, 11)
>>
>> Die »Kultur des Selbst« ist der Ort, an dem sich die Philosophie der
>> Lebenskunst praktisch entfalten kann: »Die Arbeit, Widersprüche
>> zusammenzuspannen, Freiheit neu zu erproben ujnd in Formen zu gießen,
>> gegebene Formen neu zu interpretieren und sich anzueignen, Leben und Form in
>> Lebensformen miteinander zu vermitteln, geschieht vorzugsweise hier.» (WS,
>> 130).
>>
>> BilderChat als Ort der Lebenskunst.
>>
>> Kannst Du was damit anfangen?
>>
>> Fragt sich und grüßt herzlich
>> Yvonne
>>
>>
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  • Chat vom 02.10.2003 last edited on 9 October 2003 at 10:50 am by 1Cust94.tnt4.hbg2.deu.da.uu.net