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ad amica/os



Ad amica/os
© taureck, veilchenstr. 2a, 30 175 hannover

Ein seltsames Detail auf den rötlichen €-Münzen
Ein zur seltenen Detailbeobachtung fähiger Freund weist darauf hin, dass auf der Zahlseite der kupfernen Cent-€-Münzen Europa sich offenbar bis zum Äquator ausdehnt, während es auf den übrigen Münzen gar kein Afrika gibt. Dies ist ein symbolischer Tribut an das verarmte Afrika. Wir gedenken seiner mit der symbolischen Armut der Kupfermünzen und zeigen ihm so unsere gesamte Geringschätzung.

Glaube
Jemand, der unheilbar gelähmt ist, soll glauben, er werde ohne menschliches Zutun entlähmt. Dies ergibt die religiöse Zumutung. Wer einwendet, sie scheitere, verkennt, dass das Scheitern längst als Gegenstand religiöser Verkündigung fungiert.

"The state is concentric, man is eccentric", bemerkt James Joyce 1918, eine Antithese zum Zoon-politikon-Axiom und seinen Ideologien.

Stärkt die Entlarvungssätze!
Die französische Revolution spielt sich nicht in ihren schwächsten Seiten in Sätzen der Entlarvung ab. In Sätzen, die legitime Herrschaft als Vorteilsverschaffung entlarvt. Entlarvende Sätze sterben, eine Freude den Ungerechten, leicht ab. Wenige überleben, jedoch deformiert wie "Religion ist Opium für das Volk (statt: des Volkes)."
Rousseau ist ein oder der Meister des Entlarvungssatzes. Einige Beispiele aus den Lettres écrites de la montagne: "Da sie [die Führer] stets im Namen des Gesetzes sprechen, auch wenn sie gegen es verstoßen, ist jeder, der es gegen sie zu verteidigen wagt, ein Aufständischer, ein Rebell: er muss zugrunde gehen; und für sie, die stets der Straflosigkeit in ihren Unternehmungen sicher sind, ist das Schlimmste, was ihnen zustoßen kann, keinen Erfolg zu haben (le pis qui leur arrive est de ne pas réussir)." Das zeigt den Missbrauch als Brauch und als tödliche Macht des Brauches.
Oder: "Der wahre Weg der Tyrannei besteht keineswegs darin, das Gemeinwohl anzugreifen; dadurch würde man nur alle aufwecken, um es zu verteidigen; es besteht vielmehr darin, nach und nach alle seine Verteidiger anzugreifen und jeden zu erschrecken, der es noch wagen würde, ein solcher Verteidiger zu sein." Wer diesen Entlarvungssatz liest, wird die neoliberale Privatisierungswut besser einschätzen können.
Das bezeichnete Verfahren der Tyrannei führt schließlich dazu, was in unseren Oligo-Demokratien vermutlich schon selbstverständlich ist: die "Gerechtigkeit wird nur noch eine Ökonomie sein, um nicht grundlos seinen eigenen Besitz zu verschleudern."


Vermutung
Vielleicht müssen wir Menschen erst postbiologisch werden, uns nicht mehr nur bescheiden, sondern uns selbst bemessen, um dem unbekannten Tage gewachsen zu sein, wo wir Wesen anderer Materieteile dieses Alls begegnen, die nicht nur anders, sondern uns überlegen sind. Und vielleicht war die bisherige Nichtbegegnung mit jenen ein wohltätiger Zufall.




20-1-2002
Entlarvung der Bonisierung des Schlechten
Rousseaus Antwort von 1752 zum Thema Luxus auf die vehemente Kritik eines Charles Borde (meist: Bordes) sollte nicht vergessen werden. (Die Geschichte Bordes-R ist die Geschichte, wie aus einer Freundschaft eine Feindschaft wurde, die in Rs Leben nicht selten ist (berühmt: das Verhältnis zu Diderot). Borde, so R in den Confessions (OC,I, 128) zeige "bis wohin die Eigenliebe (amour-propre) eines Schöngeistes die Rache treibt, sobald er sich vernachlässigt glaubt". Borde verband sich teilweise mit Voltaire gegen R, entzog sich dessen Instrumentalisierungsversuch jedoch. Vgl. dazu den Artikel "Bordes" im Dic. R. von dem stets optimal informierten und informierenden Raymond Trousson, aa0., 90-91.) Der Text von Borde Discours sur les Avantages des Sciences et des Arts ist heute wieder verfügbar und findet sich einer von Trousson edierten Sammlung (631 S!) aller wichtigen Kritiken und Gegenkritiken zu Rousseau unter dem Titel: Rousseau. Mémoire de la critique (2000), Presses de l’Université de Paris-Sorbonne: Paris, 65-83. Eine unschätzbare Sammlung ! Um sich eine Vorstellung von Bordes Text zu verschaffen, achte man auf den ersten Satz seiner Abhandlung: "On est désabusé depuis longtemps de la chimère de l’âge d’or: partout la barbarie a pécédé l’établissement des sociétés; c’est une vérité prouvée par les annales de tous les peuples. » (Der Missbrauch der Chimäre des goldenen Zeitalters ist seit langem beendet : überall ist die Barbarei der Einrichtung der Gesellschaften vorausgegangen; das ist eine von den Annalen aller Völker bewiesene Wahrheit.) Somit: R hängt der voraufklärerisch-mythologischen Chimäre des Goldenen Zeitalters an (Ovid) an und missachtet den "Beweis" für die Gleichung von Naturzustand=Barbarei. R hat sich von dieser Rhetorik des Beweises nicht beeindrucken lassen. Überhaupt ist es ein Zeichen der intellektuellen Schärfe, Redlichkeit und des Tests auf die Fähigkeit Eigenliebe und Wahrheitsinteresse zu unterscheiden, ob und wie jemand auf Kritiken reagiert. R erweist sich hier vermutlich als eine Art unerreichtes Vorbild. Er reagiert nie als Oberlehrer noch auch als Gekränkter, zwei Rollen, aus denen Rechthaberei entsteht, oder die von Rechthaberei gern gewählt werden. Vielmehr reichern seine Antworten seine Argumentationen erheblich an. Was wäre gewonnen, wenn als Regel des Disputes gälte: Antworte nicht rechthaberisch, sondern versuche, wo du Recht zu haben meinst, deine Argumentation anzureichern!
Aus Bordes Schrift greife ich die Verteidigung des Luxus heraus. Sie fällt so prägnant aus, dass die Neoliberalen von heute sie infolge ihrer Unkenntnis dieser Schrift noch einmal erfanden: "le luxe seul peut nourrir les sujets. […] Le travail du pauvre est payé du superflu des riches. […] un pertit nombre d’hommes jouit avec modération de ce qu’on nome luxe" […] "un nombre infiniment plus petit en abuse" (aa0, 79). "Allein der Luxus vermag die Untertanen zu ernähren. …die Arbeit des Armen wird durch das Überflüssige der Reichen bezahlt. … eine geringe Zahl Menschen genießt maßvoll, was man Luxus nennt …eine unendlich geringere Zahl missbraucht ihn." Gern würde der Neoliberale die Antwort R.s nicht hören wollen. Sie war und bleibt grundlegend: "Le luxe peut être nécessaire pour donner du pain aux pauvres: mais s’il n’y a avait point de luxe, il n’y aurait point de pauvres. » (Der Luxus kann nötig sein, um den Armen Brot zu geben : doch wenn es keinen Luxus gäbe, so gäbe es keinerlei Armut.") In einer Fußnote heißt es : « Le luxe nourrit cent pauvres dans nos villes, et en fait périr cent mille dans nos campagnes. » (Der Luxus ernährt hundert Arme in unseren Städten und lässt hunderttausend auf dem Lande zugrundegehen.) (OC III, 79) Die Beweisführung wird also umgekehrt: Luxus-Befürworter wollen nicht sehen, dass sie etwas durch die quantifizierte Unterscheidung von Missbrauch rechtfertigen, das in sich selbst bereits Missbrauch und Missbrauchswachstum bedeutet. Luxus ist Ursache von Verarmung und von Verteilungsungerechtigkeit. Was R immer wieder aufdeckt, ist eine Logik der rationalen Bonisierung des Schlechten. Sie lautet: " Produktion und Konsum von Überflüssigem ist sozial wohltuend, nur der Missbrauch muss verhindert werden." Heute gilt: "Hyperproduktion und Hyperkonsum sind gut und notwendig, nur muss Missbrauch verhindert werden."



21-1-2002

Was tritt an die Stelle von Teleologie? Die Suche nach sprachlichen Formeln für Kausalität. Vorschlag: Ursachen wollen sich auswirken. Das wäre, semantisch gesehen, eine voluntaristische Kausalität. Eine Ursache will nicht wirken, sie will vielmehr nur ganz und gar aus sich heraustreten, das heißt sich auswirken, sich auswringen. Die Sonne will nicht uns Leben spenden, sie will sich ausscheinen. Die Spermien wollen nicht zeugen, sie wollen sich auswerfen.



Warum ist es so still geworden um Rimbaud?
War er nicht doch zutiefst Communard von 1871, wie Pierre Gascard voller Enthusiasmus im Anschluss an Breton meint? (Breton betonte: das Marxsche "Verändern" der Welt und das "Changer la vie" Rimbauds sei dasselbe.) Kein Wort davon in der Literaturgeschichte. Stattdessen Feigheit: Rimbaud bricht trotz sich überstürzender Bilder nicht zu neuen Ufern auf, ist formal entweder traditionell oder unverständlich. Feigheit: man meidet auf diese Weise ein Adjektiv: "überschätzt".


22-1-2002
Die Eigenwohlorientierung der Rache
Rache und Rachewunsch lassen auf extreme Eigenwohlzentrierung schließen. Wer sich für ein erlittenes Unrecht rächt, nimmt seine Belange so wichtig, dass ihm die Normen, die auch sein Wohl regeln, unwichtig werden und er alle und alles zerstören möchte, was ihn an der Rache hindert. (Wenn ein anderer das Unrecht eines anderen rächen soll, so kommt ihm dies unter Umständen zu Bewusstsein. Das ist ein Teil der Hamlet-Konstellation.)
Rache war das Muster der Reaktion von Staaten auf Staaten, bevor das Völkerrecht erfunden wurde. Die Eigenwohlorientierung der Staaten durfte sich riskant austoben. Das Verhalten Israels und der Vereinigten Staaten lässt (derzeit) erkennen, dass die eigenen Belange für so übergeordnet genommen werden, dass übergeordnete Normen, die bestimmt sind, auch das Wohl dieser Akteure zu garantieren, für nichtig erklärt werden.

Erst Markt-, dann Völkerrechtderegulierung
Die Absatzkrise des destruktiv wachsenden Kapitalismus wurde mit Marktderegulierung beantwortet. Die Sicherheitskrise des Staates wird mit Völkerrechtderegulierung beantwortet.



23-1-2002
Indirekter Wirklichkeitsbezug und Religion als organisierter Kitsch
In seinem Zibaldone Nr. 216 von 1832 heißt es bei Leopardi: "L’uomo non vive d’altro che di religione o d’illusioni. Questa è proposizione esatta e incontrastabile: Tolta la religione e le illusioni radicalmente, ogni uomo, anzi ogni fanciullo alla prima facoltà di ragionare (giacchè i fanciulli massimamente non vivono d’altro che d’illusioni) si ucciderebbe infallibilmente di propria mano, e la razza nostra sarebbe rimasta spenta nel suo nascere per necessità ingenita, e sostanziale.” (Der Mensch lebt von nichts anderen als Religion und Illusion. Dieser Satz ist exakt und unumstößlich. Wären die Religion und die Illusionen radikal fortgenommen, so würde sich jeder Mensch und auch jedes Kind bei seiner erwachenden Überlegungsfähigkeit (denn schon die Kinder leben am meisten von nichts anderem als von Illusionen) selbst unfehlbar töten, und unsere Rasse wäre in ihrem Ursprung durch eine innere und wesentliche Notwendigkeit ausgestorben.)
Bekannt ist auch eine Unterhaltung Casanovas mit Voltaire im Jahre 1760. Casanova: "Angenommen, dass es Ihnen gelingt, den Aberglauben abzuschaffen – was wollen Sie an seine Stelle setzen?" Voltaire: "Wenn ich die Menschheit von einem schrecklichen Ungeheuer befreie, kann man mich doch nicht fragen, was ich an seine Stelle setzen werde." Casanova: "Es verschlingt sie ja gar nicht, der Aberglaube ist im Gegenteil notwendig für das Bestehen der Menschheit." (Zitiert nach J. Rives Childs (2000) Casanova de Seingalt, Rowohlt: Reinbek, 147)
Welches Argument ergibt sich hieraus eigentlich? Ist es eine Anthropologie, wonach der Mensch ein animal se decipens, ein sich täuschendes und der Selbsttäuschung bedürfendes Wesen ist? Wenn wir dies annehmen: hebt Selbsttäuschung sich nicht als Bestreben auf, weil sich niemand wissentlich täuschen kann? Vermutlich wird jedoch etwas anderes gemeint, nämlich eine begleitende Zuständlichkeit der Täuschung und die Einwilligung in sie aus Gründen von daraus erwachsenden Vorteilen, was im Kunsterleben geschieht. Das Kunsterleben lässt sich als indirekter Wirklichkeitsbezug bestimmen, sofern darin mitgeteilt wird, dass der indirekte Wirklichkeitsbezug veritativ authentischer ist als direkter Wirklichkeitsbezug. Das hieße: Was uns die Kunst darstellt, ist falsch, doch, sofern wir in diese Darstellung einwilligen, lernen wir dabei, dass der direkte Wirklichkeitsbezug arbiträr ist. Sicherlich, die Religion möchte dies auch zeigen, doch womit? Wenn ihr Prosa, wenn ihr Lyrik gelingt, dann ist sie Teil der Kunst. Doch weithin bleibt sie formverfehlender Kitsch. Organisierter Kitsch beansprucht in der Regel eine Zensur über das, dem er unterlegen ist, eben der Kunst.

Folgen des längeren Lebens auf Erden
Seitdem die durchschnittliche Lebenszeit seit mehr als hundert Jahren um etwa 50% anwuchs, konnte es nicht ausbleiben, dass der Eigennutz zunahm und jene Orientierung am Wohl der Generationen und Ahnenketten geringer wurde und verloren ging.
Es gibt sogar einen sozialen Druck zur Eigennutzorientierung, der zu Sinnkrisen führen kann, die gern dann eintreten, wenn angesichts der langen Lebenszeiten der individuelle Sinnvorrat zur Neige geht.

24-1-2001

Neologismus
Die Verschmelzung von Risiko und Klo zu: Risiklo.

Rettung durch das, was man ablehnte
Das, was den Humanisten seit Humboldt als eher unrein, abgeleitet und unklassisch vorkam, die lateinische Zivilisation, wird jetzt als die offenbar letzte Rettung vor dem Verschwinden des altsprachlichen Unterrichts erfunden, nicht empfunden. Gekauft wird wegen Verpackungen. Gekauft werden auch Verpackungen. Hauptsache, es wird verkauft.


25-1-2001
Das gefräßige Tier namens Globalisierung
Sozialstaat, Verteilungsgerechtigkeit, Völkerrecht, Menschenrechte, kurz das nationale Fortschreiten zur internationalen Rechtsgarantie für alle Menschen steht seit dem Neoliberalismus und seiner Globalisierung im Verdacht jenseits des "Menschen" an eine immense, freie Kapitalmasse gebunden zu sein, die auf Spekulationsgewinne (auch auf geringe) angewiesen ist. 1994 besaßen 200 Menschen 400 Milliarden DM. 2001 besaßen 200 Menschen 1000 Milliarden DM. Es entstand ein riesiges Tier, dessen Futterbedarf die Masse der Globusbewohner täglich materiell verarmen lässt und zugleich noch diejenigen ideellen Bedingungen wegfrisst (die genannten Rechtsgarantien), die eine Nicht-Verarmung garantieren könnten. Der Profiteur als Zerstörer des Menschen. Die Formel "Humanismus jenseits des Humanismus" soll demgegenüber auch betonen: Sicherung des durchschnittlichen Wohls aller Erdbewohner, Verlagerung des humanum auf die Mehrzahl statt auf wenige Profiteure.
Die Aktivität der Profiteure kann auf verschiedene Weise behindert werden, zum einen durch Extreme, zum anderen durch gemäßigte Aktionen. Extreme sind doppelt, nämlich ungehinderter Zugriff auf die Reichtümer des Globus einer- und revolutionärer Stopp andererseits. Gemäßigte Aktionen haben ihrerseits zwei mögliche verschiedene Ziele: Sozialisierung der Gewinne (und nicht nur der Kosten) einer- und Verhinderung der Preisgabe erreichter Verteilungsgerechtigkeit andererseits.
Das Extrem der ungehinderten Profiteure: Es spricht einiges dafür, dass es für die Profiteure ruinös würde. Die fortschreitende Verarmung brächte die Nachfrage zum Erliegen. Doch gleichzeitig würde der Ruin der Profiteure mit einem Massenhungertod erkauft, der selbst den bisherigen Welthunger weit überschreiten könnte. Damit die Profiteure scheitern, müsste sich zuvor ein ökonomisch wirkender Giga-Genozid ereignen.
Das Extrem eines revolutionären Stopps der Profiteure: Jedes Land, das sich mit einer revolutionären Ordnung der Profiteure erwehren wollte, würde durch Abzug internationalen Kapitals auf der Stelle in einen Versorgungsnotstand gegenüber der eigenen Bevölkerung geraten, die deshalb die Globalisierung der nackten Not verziehen dürfte.
Daraus folgt, dass die Extreme wenig geeignet sind, um die Aktivität der Profiteure zu beenden. Wie steht es dagegen mit den gemäßigten Optionen?
Die Sozialisierung der Gewinne besagt normativ: Globalisierung soll keine Globalisierung der Armut sein, sondern der größten Zahl zugute kommen. Wenn Globalisierung erfolgen soll, dann als Ko-Globalisierung, verstanden als Erhöhung des Durchschnittsnutzens aller bei gleichzeitiger Maximierung des Profits für wenige. Es soll ein möglichst großer Kuchen für alle gebacken werden. Doch nach welchen Regeln soll er wie an alle verteilt werden? Der Utilitarismus mit seiner Formel "the greatest good for the greatest number" krankt an dem Fehlen von Regeln zur Verteilung des Erwirtschafteten.
Bleibt die Verhinderung der Preisgabe erreichter Verteilungsgerechtigkeit. Es geht hierbei um die plausible Forderung, existierende Versorgungssysteme wie Gesundheit, Bildung oder Altersversorgung mit konjunkturunabhängigen Zeitgarantien der Leistung nicht in Privateigentum zu überführen, das Zeitgarantien der Leistung nur kurzfristig erlauben kann. Diese Forderung ist paradox konservativ: sie erblickt in der progressiven Privatisierung öffentlicher Güter einen Fortschritt zur sozialen Desintegration. Sie glaubt den Fortschritt zur sozialen Integration am besten in der Bewahrung des Erreichten aufgehoben. Das Ziel bliebe nach wie vor die fortgesetzte Verbesserung sozialer Integration. Solange dieses Ziel nicht erreichbar ist, muss zumindest verhindert werden, dass es zu einer weiteren Erosion bestehender öffentlicher Güter kommt.
Es klingt und ist bitter: von vier Möglichkeiten der Behinderung der global players bleibt zurzeit nur der paradoxe Konservatismus der Verhinderung von noch mehr Privatisierung übrig. Die extremen Lösungen können, da sie mit Hungertod und Hungersnot einhergingen, nicht verantwortet werden, und das Votum für eine Ko-Globalisierung bleibt die Regeln für eine Verteilungsgerechtigkeit schuldig.
Noch ist der breiten Öffentlichkeit vermutlich gar nicht bewusst, was mit dem seit 1995 existierenden "General Agreement on Trade in Services" (abgekürzt GATS) auf unsere Gesellschaften zurollt. Das bisher dem Allgemeinwohl verpflichtete Hoheitsrecht des Staates bei der Regulierung sensibler Wohlfahrtsbereiche wird hierbei an die Privatwirtschaft abgegeben. Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung würden damit kostensparend und qualitätssenkend praktiziert. Artikel VI von GATS nimmt den Staaten ihre Souveränitätsrechte der Regulierung. Die Staaten müssen den Nachweis erbringen, dass ihre Dienstleistungen in gleichem Maße effizient sind wie die Angebote der Privatwirtschaft. Wird dieser Nachweis nicht erbracht, gilt Privatisierung! Noch vor zehn Jahren wäre dies ein Gegenstand von sience fiction gewesen.
Wenn diese Enteignung der bewährten Daseinsvorsorge nicht von Protesten be- oder verhindert wird, so würde unsere gesamte Zukunftsfähigkeit abgesenkt. Die Zukunftsoption der Globalisierer ist der schnelle, kurzfristige Gewinn. Ihre Schwäche ist daher auch ihre Störanfälligkeit.




Die gegenwärtige Interferenz zweier Humanismen
Die Debatten um Genetik weisen auf einen Humanismus der Selbsttransformation des Menschen und des Menschenverständnisses. Dagegen weist die Ereigniskette seit dem 11. September 2001 auf einen Humanismusder Mitte, der selbst extremistisch handelt. Es zeichnen sich so zwei verschiedene Humanismen ab, und beide sind für sich komplex oder gar prekär.
Die Gleichzeitigkeit beider Humanismen scheint unsere bisherigen Lösungsmöglichkeiten zu übersteigen. Daher bildet die derzeitige Situation eine unter Umständen gefährliche Interferenz zweier Probleme, die nicht nur kaum lösbar sind, sondern deren Konstellationen gar nicht im öffentlichen Diskurs erscheinen, weil dafür keine Sprache und keine Darstellungsformen bereitstehen.
Der Humanismus der Mitte gilt als selbstverständlich. Ist die Mitte jedoch gefährdet durch Extremismus, so verhält sie sich selbst extremistisch in der Extremismusbekämpfung. Der Humanismus könnte jedoch ersetzt werden durch einen Humanismus der zunehmenden Verhinderung vermeidbaren Leides. Feind dieses Humanismus sind alle Formen von Fremdartigkeit, mit der vermeidbares Leid erfunden und zugefügt wird. Die Probleme dieses Humanismus lauten: Kann es gelingen, den Extremismus der Mitte zu ersetzen? Vermag die fremdartige Feindschaft erfolgreich zu sein?
Der Humanismus der Selbsttransformation entsteht durch die postbiologischen, den Menschen strukturell neu entwerfenden Technologien. Sein Problem ist das ungeklärte Verhältnis der Selbsterhaltung eines Humankonzepts und der Selbstopferung dieses Humankonzepts. Inwiefern muss an dem bisherigen Menschenkonzept festgehalten werden, um es durch ein anderes zu ersetzen?

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Die Unerträglichkeit des im Anderen erkannten Eigenen
« C’est dans le rapport à autrui qu’on prend conscience de soi; c’est bien ce qui rend le rapport à autrui insupportable. » (In der Beziehung zum anderen wird man sich seiner selbst bewusst; und eben dadurch wird der Bezug zum anderen unerträglich.)
Das schreibt Houellebecq in Plateforme. Sein Held hasst kaum etwas so sehr wie amerikanische Bestseller, die er schließlich im Sand vergräbt. Ich wüsste nicht, in welchem amerikanischen Bestseller sich ein solcher Aphorismus fände, der von US-Lesern schlechthin nicht verstanden werden würde, sofern sie jene Öde auch denken, die sie reden: "Don’t care, I wanna have fun."

26-1-2001

Lebenssinn: Bedürfnisse mit unabsehbarer Befriedigung
Hotel-Urlaub als Lebensreise, Sex, Whisky, Whissexky, Scheinrettung fremder Armut durch touristische Nachfrage nach überflüssigen Gütern, Lektüren, dann, unerwartet, sich zuspitzend, aphoristische Sprachformen, die Erzeugung einer anderen Welt, die bestehen bliebe und zugänglich wäre für andere in und wegen der extrem sicheren Unsicherheit der Ereignisse, ihrer stabilen Instabiltität. Doch damit dies stattfindet, müsste es noch Entwicklung geben. Damit es Entwicklung gäbe, müsste es noch den Glauben an Entwicklung geben. Damit es einen solchen Glauben gibt, müssten noch Erwartungen aufkommen von halb bekannten Bedürfnissen, deren Befriedigung nicht käuflich und noch überhaupt nicht verfügbar ist. Solche ungeklärten Erwartungen und das Aufkeimen von Bedürfnissen im Bewusstsein ihrer unabsehbaren Befriedigung ist die Bedingung dafür, dass Lebensvollzüge als sinnvoll empfunden werden. Amerikanismus und die bekannten Formen von Sozialismus haben dagegen gemeinsam, dass sie nur als Bedürfnis zulassen wollen, was sich zu jeder Tageszeit befriedigen lässt. Der Unterschied zwischen beiden läge darin, dass der Amerikanismus die Befriedigung auf 24 Stunden ausweitet.
Der junge Hugo von Hofmannsthal hat in seinem Dramenfragment Der Tod des Tizian die unerfüllte Erwartung als Bedingung von Lebenssinn unwiderstehlich präzisiert:
Und hätte jeder nicht den Traum von morgen
Mit leuchtender Erwartung, Glück zu werben,
Und hätte jeder nicht ein heimlich Bangen
Vor irgend etwas und ein still Verlangen
Nach irgend etwas und Erregung viel
Mit innrer Lichter buntem Farbenspiel
Und irgend etwas, das zu kommen säumt,
Wovon die Seele ihm phantastisch träumt,
Und irgend etwas, das zu Ende geht,
Wovon ein Schmerz verklärend ihn durchweht -:
So lebten wir in Dämmerung dahin,
Und unser Leben hätte keinen Sinn...
Die Schlichtheit der paarigen Endreime kontrastiert hier mit der Bejahung der Unsicherheit des Kommenden als Bedingung von Sinngebung. Die Zeit, in der dies geschrieben wurde (1892) war noch jene Zeit des europäischen Gleichgewichts vor jenem Ersten Weltkrieg, der alles Bisherige veränderte und von dem man am Ende des 20. Jahrhunderts behauptete, er endete erst 1989. Hofmannsthals Text markiert eine Art früh gereifter Bereitschaft, jedoch noch keinen Vorausblick auf der Grundlage eines Rückblicks.

27-1-2001
Lüge als Luxusfolge
Ohne Lüge ist Luxus gar nicht möglich. Anstatt zuzugeben, dass man Überflüssiges nicht missen möchte, äußert man, dass man sich schlicht kleide, sparsam esse und preisbewusst einkaufe. Ohne die Praxis dieses Lügens gäbe es nicht den internationalen Hyperkonsum. Dieser ist das große Tier, von dem wir alle abhängen. Der Hyperkonsum gilt als Bedingung von Freiheit und Demokratie. Dies ist zu übersetzen in: Freiheit und Demokratie ist Bedingung und einziger Inhalt von Hyperkonsum geworden.

Behinderung von gefährlichen Vorgriffen auf Zukunft durch Eingriffe in seine Gegenwarten
Um ein politisch-ökonomisches System S zu bekämpfen, scheint es nicht auszureichen, irgendein Ereignis E zu be- oder zu verhindern. Das wäre, so das Argument, nur fruchtlose Arbeit am Symptom. Um Globalisierung zu bekämpfen, würde es beispielsweise nicht reichen, die Davostreffen zu behindern.
Doch vielleicht kann man folgendes hinzulernen: Was ist das System S in seinen gefährlichen Teilen anderes als ein Vorgriff auf den Verlauf der Zukunft, die nicht anders als durch das Erzeugen bestimmter Ereignisse E eintreten würde? Somit ist S von dem Erfolg von E abhängig. Folgt daraus aber nicht, dass die Be- oder Verhinderung von S die Identität von S in Frage stellt?

29-1-2002

1932, die USA am Rande des Untergangs?
1932, USA eine Million Menschen werden infolge des Kursverfalls an der Börse in die akute Hungernot getrieben, müssen sich von Abfällen und Brennesseln ernähren. In einigen Städten kommt es zu Demonstrationen, zu Unruhen und zu Plünderungen. In Washington wird von Tausenden für unverzügliche Hilfe demonstriert. Eine Radikalisierung ist möglich. Regierungstruppen schlagen die Demonstration in Washington mit derselben Brutalität nieder wie die Demonstranten von Hunger und Verzweiflung getrieben werden. Und jetzt beginnt es: Intellektuelle werden zu Marxisten, das kapitalistische System hat in ihren Augen abgewirtschaftet. Doch die US-Amerikaner ziehen das Gefühl der allgemeinen Lähmung dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft vor. Die Lähmung hat außenpolitisch zur Folge, dass die USA gegen Japans Besetzung der Mandschurei nur protestieren.
Die USA waren also bereits einmal am Rande ihres Endes. Dass sie nicht den Weg des Faschismus gingen, schrieb sich in ihr Selbstverständnis ein. Weltpolitisch hat sie der Germanofaschismus groß werden lassen. Ohne Hitlers Griff nach Europa hätte es vielleicht im 20. Jahrhundert noch keinen globalen Führungsanspruch der USA gegeben.


31-1-2002
Ohne Augen
Bei vielen Zeitgenossen über fünfzig suchst du eines vergeblich: Augen an der Stelle, wo Augen sein müssten. Diese Menschen sprechen noch. Aber Sprechen ist nicht Sehen und macht nicht sehen. Robert Creely dichtete 1962:
Your

hair as
you brush
it, the light

behind
the eyes,
what is left of it.

Vielheit ist unerträglich
"Ich schrieb nur einen Satz" bedeutet mehr als "Ich schrieb nur drei Sätze." Weshalb? Die numerische Tatsache, dass drei Sätze zwei mehr als einer sind, tritt zurück hinter dem magischen Signal der "eins" und des "Einen".
Vielheit bleibt unerträglich. Es soll alles Eins sein, Vielheit ist nur als Erscheinung des Einen zugelassen. Anders ist es schwer verständlich, dass Einigkeit als Wert beschworen wird. Was bedeutet das Eine, auf das sich gänzlich verschiedene Gruppen beschwörend beziehen? Offenbar ist es inhaltlich nicht prädeterminiert. Es konnte die unterstellte eine Universalsprache sein, es konnte das eine natürliche ewige Gesetz sein, der eine heilige Text, der Wasserstoff, der eine verborgene Gott, das eine Moralgesetz, der eine genetische Bauplan, die eine Rationalität, die Einheit der Person, die eine Währung, der eine Lebensplan, das eine Lehrbuch, der eine Plot, die eine Lehrmethode, das eine Erfolgsrezept, die eine Militärstrategie. Vielheit bleibt unerträglich. Wie mit ihr umgehen? Sie unter ein Gesetz bringen. Sie lähmen, sie rauben, sie planieren, sie verfeuern.
In der Dichtung und Dichtungstheorie zeigt sich glücklicherweise eine schöpferische Gegenwendung gegen die Furcht vor der Vielheit. Italo Calvinos sechster Vorschlag für das neue Jahrtausend lautet molteplicità, Mannigfaltigkeit. Borges, auf den sich Calvino dabei besonders beruft, schreibt: " A diferencia de Newton y de Schopenhauer, su antepasado non creía en un tiempo uniforme, absoluto. Creía en infinitas series de tiempos, en una red creciente y vertiginosa de tiempos divergentes, convergentes y paralelos (ein wachsendes und schwebendes Netz mit divergierenden, konvergierenden und parallelen Zeiten). » Ficciones (1999). Alianza Editorial : Madrid, 116. Auf diese Stelle bezieht sich unter anderem Italo Calvino mit einem Votum für einen "iper-romanzo" als "grande rete", den er gegen das Argument der Einheit des Selbst so verteidigt: "Al contrario, rispondo, chi siamo noi, chi à chiascuno di noi se non una combinatoria d’esperienze, d’informazioni, di letture, d’immaginazioni? (Im weiteren Text wird dann dafür votiert, das andere zum sprechen zu bringen, was nicht spricht wie einst Ovid in den Metamorphosen und Lukrez mit der Identifikation mit der Natur von allem.) Calvino, Lezioni americane. Sei proposte per il prossimo millenio (1993) Mondaori: Milano, 130-135.

Oil crise of the soul
Die ökonomische Ölkrise endete 1973 im Jahr ihres Beginns. Die Ölkrise der Seele nimmt zu.


Europäer aus Verweiflung
° Als guten Europäer zähle ich nur noch, wer Europäer aus Verzweiflung ist.
° Verzweiflung woran?
° Vermutlich meinen Sie, es müsse erst Verzweiflung geben, die dann fragt: Wie finde ich nur etwas, worüber ich verzweifelt sein kann?












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