Was das junge Amerika vom alten Europa lernen kann

Schon großartig, dieser Rumsfeld. Weiß der amerikanische Verteidigungsminister, dass er in Europa eine kleine, aber stetig wachsende Fan-Gemeinde hat? Ja, auch und gerade im „alten Europa“. Diese Anhänger versäumen nur ungern eine seiner Pressekonferenzen und scheuen dafür auch späte Sendetermine von CNN nicht. Zuschauen, genießen: Rumsfeld tritt eilends ans Podium vor dem Pentagon-Symbol. Rückt nochmal angriffslustig die Brille zurecht. Aasiges Grinsen. Und dann kommt eine dieser gutgelaunten Bosheiten. Zu Deutschland: „Ich würde sagen, wenn du im Loch sitzt, hör auf zu buddeln.“ Danach ein Gelächter, das man nur als „dreckig“ bezeichnen kann. Hoharharahaaa. „Ich weiß, ich hätte das nicht sagen sollen“ – triumphierende Blicke in die Runde.

Warum wir das so genießen? Weil wir Menschen des alten Europa sind, allzuvielerfahren in historischer Physiognomie, perverse Lüstlinge des Charakteristischen, verkommene Spanner der großen Momente im Garten des Menschlichen. Geschichte geht weiter und stellt unverwechselbare, unvergessliche Figuren hin – Donald Rumsfeld! Was ist der Unterschied von alten und jungen Nationen? Die Jungen wissen gar nicht, wie gut sie sind, die Alten wüssten es schon, bringen es aber nicht mehr. Rumsfeld hat gar keine Ahnung, wie gut er war am Mittwoch, als er Deutschland und Frankreich zu Problemnationen erklärte und hinzufügte, sie repräsentierten halt das „alte Europa“, während das neue seine Gravitation doch längst im Osten des Kontinents habe.

Und er sprach fast im selben Augenblick, da in Versailles die erste gemeinsame Sitzung von Nationalversammlung und Bundestag zu Ende ging. Was rauscht dem Europäer, gerade dem Deutschen da nicht alles durch die Rübe: Versailles! Lieselotte von der Pfalz, die erste populäre deutsche Schriftstellerin, durchleidet dort Hofzeremoniell und die Planung royaler Kriege gegen ihre Heimat. Nach den Mätressen die Revolution: Ballhausschwur, Menschenrechte. Ausrufung des deutschen Kaiserreichs im Bismarckschen Heerlager. Fünf Jahrzehnte später: Clemenceau lässt deutsche Delegierte mit schneidender Stimme vor den Abgesandten aller anderen Völker antreten – „Faites entrer les Allemands!“ Und jetzt tagt man gemeinsam unter der Portalinschrift „À toutes les gloires de la France“.

Man wird alt und problematisch nach einer solchen Geschichte, und man muss schon so jung und dumm wie die Bild-Zeitung sein, um gegen diese Feier aus Budgetgründen zu wettern. Der letzte Kick aber kam doch von Rumsfeld aus dem lebfrischen Amerika, denn das Versailler Ereignis wurde durch seinen erfrischenden Kommentar noch schöner, verlebter, tanzdervampirehafter, und manche der Le-Brunschen Siegesgöttinnen im Gewölbe des Spiegelsaals soll sich eines Lächeln nicht erwehrt haben.

Amerika ist, so sehen wir Alte das, ein noch sehr junges Imperium – sagen wir Rom nach dem Sieg über Karthago. Genauso reagiert es, aufbrausend, hochfahrend. „Schurkenstaaten“, „Achse des Bösen“ und jetzt „Altes Europa“ – das sind Begriffe, die eine heillos verzwickte Welt einteilen sollen in einer imperialen Sicht, die sich nur für eines interessiert: Sind sie für uns oder gegen uns, ähnlich wie es jener römische Gesandte in Karthago tat, der zwei Zipfel seiner Toga schürzte und die Wahl stellte zwischen Krieg und Frieden. So ungeduldig, ja ostentativ gelangweilt reden die amerikanischen Führer. Dürfen wir uns darüber erheben? Europa ist alt und vor allem schuldbeladen. Es gibt für unsere Kompliziertheit keine moralische Überlegenheit. Antiamerikanismus bleibt eine verächtliche Haltung. Doch von Erfahrung belehrte Furcht sagt uns: Auch Amerika wird alt werden, und der Gott der Geschichte möge verhüten, dass die Welt unter diesem Prozess zugrunde geht.

GUSTAV SEIBT

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Das alte Europa antwortet Herrn Rumsfeld - Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2003, Nr. 20 / Seite 33
 
"Frankreich ist ein Problem, Deutschland ist ein Problem" - Französische und deutsche Intellektuelle reagieren auf eine amerikanische Provokation

Was antwortet man Donald Rumsfeld? Auf diesen Seiten stehen Vorschläge. Sie bescheinigen Rumsfelds Rede das Zeug zur historischen Zäsur. Seine Provokation eröffnet einen neuen Konflikt. Amerika, das ist als letzte politische Autorität: ein Präsident, Europa, das ist als letzte moralische Autorität: ein Papst. Alt und gebrechlich wie den Papst beschreibt Amerika den Kern Europas. Doch nicht, daß Frankreich und Deutschland als altersschwach geschmäht werden, weckt Widerspruch. Es ist vielmehr der Umstand, daß die Amerikaner in der Kriegsunwilligkeit halb Europas nur Starrsinn, nicht Erfahrung erkennen wollen. Was immer an Wahltaktik bei deutschen und französischen Politikern im Spiel sein mag - das "alte Europa" besteht aus den Erfahrungen unzähliger Generationen, die ohne Ausnahme Erfahrungen des Krieges gewesen sind. Wie ernst sie genommen werden, zeigt die Kriegsskepsis aller Parteien. Eben noch wollten wir den Jahrestag der deutsch-französischen Freundschaft als gefeiert abhaken. Jetzt sagen wir mit Paul Valéry aus dem Jahre 1919: "Der heutige Tag stellt uns vor eine Frage von höchster Wichtigkeit: Wird Europa das werden, was es in Wirklichkeit ist: ein kleines Vorgebirge des asiatischen Festlandes? Oder aber wird Europa das bleiben, was es scheinbar ist: der kostbarste Teil unserer Erde, die Krone unseres Planeten, das Gehirn eines umfänglichen Körpers?" schi.

Jürgen Habermas.

Neue Welt Europa.

Das säkulare Selbstverständnis der Neuen Welt zehrt von einem christlichen Erbe, von der Parteinahme für den ordo rerum novarum. Aus dem alten Europa waren es nicht die schlechtesten Geister, die sich von diesem Pathos des neuen Anfangs haben anstecken lassen - erst recht seit 1945. Auf den Flügeln dieses amerikanischen Geistes hat sich hierzulande eine normative Denkungsart gegen alte Mentalitäten durchgesetzt - gegen den realpolitischen Zynismus der Abgebrühten, gegen die konservative Kulturkritik der Feinsinnigen und gegen den anthropologischen Pessimismus derer, die auf Gewalt und gewalthabende Institutionen setzen. Es ist eine merkwürdige Verkehrung der Fronten, wenn Rumsfeld - der Politiker des von außen erzwungenen "Regimewechsels" und der Theoretiker des "preemptive strike" - dieses neue Europa "das alte" nennt. Er selbst verantwortet eine Sicherheitsdoktrin, die völkerrechtlichen Grundsätzen spottet. In der Kritik seiner europäischen Freunde begegnen ihm die preisgegebenen eigenen, die amerikanischen Ideale des 18. Jahrhunderts. Aus dem Geist dieser politischen Aufklärung sind ja die Menschenrechtserklärung und die Menschenrechtspolitik der Vereinten Nationen, sind jene völkerrechtlichen Innovationen hervorgegangen, die heute in Europa eher Anhang zu finden scheinen als in der ziemlich alt aussehenden Neuen Welt.

Der Philosoph Jürgen Habermas veröffentlichte zuletzt "Glauben und Wissen."

Joseph Rovan.

Zwei Großmächte.

Aus der Äußerung des amerikanischen Verteidigungsministers ergibt sich die Notwendigkeit, daß sich Europa neben den Vereinigten Staaten, China, Rußland und Indien als Weltmacht konstituiert und von der Dominanz der Vereinigten Staaten frei macht. Frankreich und Deutschland - die beiden Länder, die für Rumsfeld "das Problem" sind - müssen die Initiative ergreifen und die übrigen Staaten Europas für dieses Ziel gewinnen. Dieses Europa wird zwar die Türkei nicht umfassen, aber besondere, positive Beziehungen zur Türkei und zu den nordafrikanischen Ländern haben. Innerhalb Europas wird Polen zusammen mit Frankreich und Deutschland ein führendes Element zur Herstellung der europäischen Union sein. Frankreich, Deutschland und Polen sind dazu berufen, die politische und kulturelle Einigung Europas zu verwirklichen. Dieses Europa wird von der Oder bis Gibraltar und von Island bis Saloniki reichen.

Der Historiker Joseph Rovan ist emeritierter Professor für deutsche Geschichte und war Herausgeber der Zeitschrift "Documents".

Peter Sloterdijk.

Postheroische Politik.

Man muß dem Kriegsminister Rumsfeld dankbar sein: Es ist die reine Wahrheit, daß Frankreich ein Problem ist und daß Deutschland ein Problem ist. Leider enthalten die Äußerungen des Ministers keinen Hinweis darauf, daß er die Natur des Problems zu verstehen versucht. Immerhin addiert er die beiden nein sagenden Staaten und stellt sie der größeren Gruppe der ja sagenden gegenüber - mit dem Ergebnis, daß Europa gespalten erscheint in ein bush-kompatibles und ein nicht-bush-kompatibles Lager. Dies ist deutlich, wenn auch falsch. Geben wir es zu: Tatsächlich läuft eine Spaltung durch die westliche Welt, aber ihre Bruchlinie wird durch die Rumsfeldschen Vulgaritäten nicht erkennbar. Das alte Europa, durch Frankreich und Deutschland ehrenvoll vertreten, ist die avancierte Fraktion des Westens, die sich unter dem Eindruck der Lektionen des zwanzigsten Jahrhunderts zu einem postheroischen Kulturstil - und einer entsprechenden Politik - bekehrt hat; hingegen sitzen die Vereinigten Staaten in den Konventionen des Heroismus fest. Helden vom Typus Rumsfeld und Bush sind von dem Glauben erfüllt, daß es die Gewalt ist, die frei macht, und daß Kultur und Gesetze nur bei schönem Wetter gelten. Der Streit geht um den Sinn von "Realität": Rumsfeld meint, die USA betrieben Realpolitik; die Problematischen in Europa denken eher, daß in Washington der Realinfantilismus an der Macht ist.

Der Philosoph Peter Sloterdijk ist Direktor der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Zuletzt erschien von ihm: "Luftbeben. An den Wurzeln des Terrors".

André Glucksmann.

Einig im Nichtstun.

Die sogenannte gemeinsame Position Frankreichs und Deutschlands ist nur eine scheinbare: Schröder hat erklärt, daß sein Land an einem Krieg gegen den Irak unter keinen Umständen mitmachen werde. Chirac läßt diese Frage offen. Es gibt kein übereinkommendes Engagement - man ist sich nur einig, wenn es um das Abseitsstehen geht. Frankreich und Deutschland sind sich einig, nichts gegen Putin zu unternehmen. Und sie schauen zu, wenn die Vertreterin Libyens an die Spitze der UN-Menschenrechtskommission gewählt wird - was schon merkwürdig ist. Wir sind am Nullpunkt des Engagements angekommen und erreichen die Unendlichkeit im Bereich des Kapitulierens. Was den Irak betrifft, bin ich mit Salman Rushdie einverstanden: Das Land wird von einem Tyrannen beherrscht. Das Volk hat ein Recht darauf, von ihm befreit zu werden. Was mich erstaunt, ist die Tatsache, daß viele Menschen auf die Straße gehen, um gegen einen Krieg zu protestieren, der bislang ein virtueller ist. Und daß niemand gegen den tatsächlichen Krieg protestiert, wie ihn die Russen in Tschetschenien führen - und zwar mit Methoden des Terrors und gegen die Zivilbevölkerung.

André Glucksmann ist Philosoph und Clausewitz-Experte. Er stand am Anfang der antitotalitären Aufklärung durch die "Neuen Philosophen".

Luc Bondy.

Vive l'Europe!.

Was einen an dieser Sache so skandalisiert: daß hier Leute mit höchster Phantasielosigkeit am Werk sind, Verbrecher, die mit dem Krieg spielen. Und man sitzt als Zuschauer dabei und ist dazu verdammt, passiv und ohnmächtig mitzuerleben, wie etwas völlig Unnötiges passiert. Denn keiner kann einem sagen, wozu dieser Krieg gut sein soll. Wenn Herr Rumsfeld nun verächtlich sagt, das friedenssüchtige Europa sei eben "das alte Europa", dann ehrt uns dies. Wenn das alte Europa, das den Krieg gekannt hat, nun die Vernunft und die Raison besitzt, den Krieg nicht mehr zu wollen, dann bin ich für dieses alte Europa, das das neue Europa ist.

Der Regisseur Luc Bondy, Jahrgang 1948, ist Intendant der Wiener Festwochen.

Jacques Derrida.

Schockierend.

Meine Reaktion läßt sich kurz fassen: Ich finde einen solchen Ausspruch schockierend, skandalös und bezeichnend. Bezeichnend für die Unkenntnis darüber, was Europa war, was es ist und sein wird. Die Äußerung des amerikanischen Verteidigungsministers macht wohl unfreiwillig gerade deutlich, wie dringlich die Aufgabe der europäischen Einigung ist.

Jacques Derrida lehrt Philosophie an der "Ecole Normale Supérieure" in Paris.

Alice Schwarzer.

Der Tod der anderen.

Der Ton ist entlarvend. Die in der Tat überwältigende Weltmacht Amerika scheint es inzwischen überhaupt nicht mehr gewohnt zu sein, daß ihr widersprochen wird. Auch nicht in Fragen, bei denen es um Leben und Tod geht - den Tod der anderen. Und dabei gehen die elementarsten Werte ganz en passant über die Wupper: So soll, man höre und staune, nicht etwa der Ankläger (die Vereinigten Staaten) die Schuld des Angeklagten (Saddam Hussein) beweisen - sondern der Angeklagte soll seine Unschuld beweisen. Und auch für Europa ist die amerikanische Strategie nun unverhüllt die der knallharten Faust: Das "alte" Europa soll gegen das "neue" ausgespielt werden (nachdem Bush sich mit Putin den Ölmarkt aufgeteilt hat). Für mich, die Rheinländerin und langjährige Wahl-Pariserin, war die Feier der vierzigjährigen deutsch-französischen Freundschaft gestern ein wahrhaft bewegender Moment. Ich war stolz. Auch auf den deutschen Kanzler. Denn er ist, was immer seine Motive sein mögen, zur Zeit führend bei dem Versuch Europas, Menschen- und Völkerrechte nicht ganz zu vergessen und wenigstens diesen Krieg zu verhindern.

Die Autorin ist Herausgeberin der Zeitschrift "Emma".

Paul Virilio.

Wie im August 1914.

Alter Kontinent? Da muß ich lachen. Es ist die Bush-Regierung, die einen altertümlichen Krieg führen will in einer Situation, die seit dem Attentat auf das World Trade Center mit dem Hyperterrorismus vor ganz neuen Herausforderungen steht. Die Situation heute ist nicht weniger neu, als es jene damals nach dem Attentat in Sarajevo vor dem Ersten Weltkrieg war. Europa hat allen Grund, sich gegen die verfehlte amerikanische Entschlossenheit zum Krieg zu stellen, die auch das sehr fragil gewordene Amerika in den Abgrund stürzen könnte. Nur muß sich Europa auf sich selbst, auf seine Ursprünge und seine Geschichte besinnen und aufpassen, daß es sich durch vorschnelle Erweiterung nicht selbst auflöst. Ohne klare Grenzziehung ist keine Politik möglich.

Der französische Philosoph und Medientheoretiker, geboren 1932, veröffentlichte zuletzt "Ground Zero".

Georg Klein.

Glückliche Tage.

Brauchen die Vereinigten Staaten dieses Europa? Sind wir, das Seniorenheim "Altes Abendland", ein Ort, den diese zum Jung-Sein verfluchte Großmacht zumindest noch im Augenwinkel behält, wenn sie zu einem Kriegszug aufbricht? Unerträglich werden die Alten, wenn sie behaupten, all das hinter sich zu haben, worauf sich die Jugend zu freuen anschickt. Die USA sind angetreten, das Böse der Welt mit Stumpf und Stiel auszurotten. Jeder Amerikaner, der das Herz auf dem rechten Fleck hat, fühlt das unbedingte "Jetzt" dieser Mission. Jedem amerikanischen Patrioten geht es gegen den Strich seiner Seele, daß ausgerechnet in der Glorie des anhebenden Feldzugs an vergleichbare, an gescheiterte, an unglückselige Kriege gegen das Böse erinnert werden soll. Aber genau diese Rolle fällt den politischen und kulturellen Repräsentanten Europas nun zu: Sie spielen den alten, griesgrämigen Besserwisser, den Abwiegler der großen moralischen Emphase. Das Erzböse? - Wir haben in Europa lang genug "Kasperl, Teufel, Polizei" gespielt. Die Puppen gingen rundum. Deutschland hat ausgiebig die Hand in die Hohlform des Höllenfürsten gehalten. Und was das Schlimmste ist: Wir können uns sogar noch daran erinnern. Genau dies werden uns die USA nicht verzeihen: Wir kennen das Spiel, das gespielt werden soll. Und in den gewesenen Großmächten Europas, in unserem Zaudern und in unseren skrupulösen Bedenken, ahnt das erneut aufbrechende Amerika seine ferne Zukunft, einen Zustand, in dem es ohne ekstatische Aufbrüche einfach weitergehen muß. Das dürfen die USA uns nicht verzeihen! Der Tunnelblick der amerikanischen Feldherrn beginnt irritiert zu flackern. Europa jedoch erlebt glückliche Tage: Im Auge der amerikanischen Paranoia, dort wo ihre Pupille ganz schwarz ist, glitzert auch unsere Wahrheit.

Der Schriftsteller Georg Klein, Jahrgang 1953, veröffentlichte zuletzt den Erzählungsband "Von den Deutschen".

Tahar Ben Jelloun.

Blindheit an der Macht.

Die amerikanische Politik hat immer auf Arroganz und die Verachtung der anderen gesetzt. Bisher waren es eher die armen Völker, die Gegenstand dieser Verachtung waren. Nun sind auch die Europäer Opfer dieses Mangels an Weitsicht und an Respekt. Beunruhigend ist, daß die in ihrer Kriegsfixierung blind gewordene Bush-Regierung sich aufführt, als hätte die Zivilbevölkerung der arabischen Welt und nun auch Europas keine Bedeutung. Am meisten kümmert mich aber, daß hier nicht die Intelligenz an der Macht ist, sondern eine Beschränktheit, die stolz auf ihre Grobheiten ist. Zu wissen, das die Geschicke dieser Welt in den Händen solcher Leute liegen, macht Angst.

Tahar Ben Jelloun wurde 1944 in Marokko geboren und lebt seit langem in Frankreich. Auf deutsch veröffentlichte er zuletzt den Roman "Das Schweigen des Lichts".

Durs Grünbein.

Die dritte Kraft.

Voilà, da ist es also endlich, das gute alte Europa. Ich betrachte die Schelte des listigen Verteidigungsministers als eine Ehre. Das ist ein schlechter Machiavellist, der beim Aufstand der Vasallen die Nerven verliert. Der drohende Unterton bestätigt, wie goldrichtig das deutsche Außenministerium mit seiner Doktrin von der "Partnerschaft im Widerspruch" liegt. Was sich da anbahnt, ist der Übergang in ein neues Zeitalter der Weltpolitik. Europa formiert sich als dritte Kraft im Spiel der Supermächte. Und wir können sagen, wir sind dabeigewesen.

Durs Grünbein, geboren 1962, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm die Bücher "Una Storia Vera", "Erklärte Nacht" sowie die Berliner Aufzeichnungen "Das erste Jahr".

Christian Clavier.

Von den Alten lernen.

Ich frage mich, ob die Amerikaner, die momentan den Krieg gegen den Irak vorbereiten, ob die nicht in Wahrheit das "alte Europa" repräsentieren. Ich glaube, die Haltung der Deutschen und der Franzosen ist eine Haltung des Friedens, weil wir in der Vergangenheit so viele Kriege hatten. Aufgrund dieser Erfahrungen ist das alte Europa weise geworden. Napoleon wollte Europa noch durch Krieg einen. Wir sind heute weiter. Unsere Position als Europäer ist verantwortungsvoll. Daß die Amerikaner ihre Interessen vertreten, ist klar, aber sie tun dies auf eine Art und Weise, die keinen Widerspruch duldet. Wir haben das erlebt, als Amerika die Europäer zwingen wollte, die Türkei in die Europäische Union aufzunehmen, und jetzt sieht man das in der Bemerkung Donald Rumsfelds. Es gibt Momente, da wird das Alte zu einem Synonym für Weisheit. Rumsfeld hat deshalb unrecht. Wir leben in einem neuen Europa, einem Europa des Friedens, das von der Vergangenheit, dem alten Europa, gelernt hat.

Der Franzose Christian Clavier spielte die Hauptrolle in der Fernsehverfilmung "Napoleon".

Friedrich Kittler.

Rosenöl.

Das alte Europa ist nicht gar so alt, wie Mr. Rumsfeld ihm vorwirft. Erst in den fünfziger Jahren hat Panzergeneral de Gaulle mit Gründung der Elf aquitaine Frankreichs Fabriken und Panzer vom Erdölstrom des Vorderen Orients, als er noch zwischen USA und Großbritannien aufgeteilt war, kühn entkoppelt. Noch später lernte Deutschland trotz Dr. Strangelove die freundschaftliche Wärme von Breschnews Erdgas und Gaddafis Erdöl lieben. Mit Massenvernichtungswaffen auf der falschen Seite - denn von unseren, obwohl sie vom Pazifik bis zum Vorderen Orient lagern, ist wieder kaum die Rede - hat das nur am Rand zu tun, eher mit der durchgesickerten Drohung, nach Saddams Sturz Elf aquitaine den Ölhahn Mossuls abzudrehen. Die Emissäre oder Engel, die vom Pentagon Europa, das neue wie das alte, dieser Tage überfliegen, haben dennoch Recht und Grund. Im Jahr 2010 wird wohl das Jahr der höchsten Erdölförderung gewesen sein, dann fällt die Kurve steil bergab; 2070 rinnt der letzte Tropfen in den Wüstensand, unwiederbringlich, unwiderruflich, falls nicht die alte Erde mehr geschont und Herrn Trittin zum Trotz nur um ihr Uran beraubt wird. Kein Staat steigt ungestraft zugleich aus Nato und Atomkraft aus, das weiß Paris, nur nicht Berlin. Abbau von Schätzen unter Tage zählte einst zu den Regalien des Kaisers; daran hat ein Empire, das seit dem Zweiten Weltkrieg (und der Me 262) auf planetarer Luftherrschaft, also Kerosin beruht, nicht viel verändert. Wer mit General Guilio Douhet "Dominio dell' aria" sagt, muß auch Erdöl meinen. Sonst stünden die F-14 und F-17 auf urangetriebenen Flugzeugträgern müßig in der Tropensonne. Krieg ernährt sich immer selbst. Darum sollten die im Pentagon Alteuropa wenigstens den einen Dank abstatten, es habe ihre Kriege überhaupt erst technisiert. Wir in Europa aber wissen, daß Europa eine schöne Braut gewesen ist, vom Ufer saum des Vorderen Orients auf unsere Wiege Kreta einst entführt. Meiner Nase gelüstet darum weder Mossuls Ölgestank noch Saddams eigenhändig aufgetürmter Leichenberg, die zwei von Mr. Rumsfeld angeführten Wirklichkeiten. Jede Heckenrose unserer Europareisen bleibt mir lieber.

Der Literatur- und Medienwissenschaftler Friedrich Kittler lebt in Berlin.

Max Gallo.

Symbole reichen nicht.

Durch die außenpolitische Annäherung bekommt das "europäische Europa", von dem de Gaulle sprach, eine Perspektive. Die gemeinsame Stellungnahme gegen einen Krieg im Irak gibt dem Elysée-Vertrag seine ursprüngliche Substanz zurück. Er hatte sie verloren, weil die Bundesrepublik zu sehr auf Amerika eingeschworen war und im Zweifelsfall atlantisch und nicht europäisch reagierte. Die jetzige Lage fördert das Zusammenrücken von Frankreich und Deutschland. Man darf darüber die vielen Probleme nicht vergessen. Die Wirtschaftssysteme sind eng miteinander verflochten, aber auch ganz unterschiedlich organisiert. Die Sprachkenntnisse gehen dramatisch zurück. "Arte" hat schlechte Einschaltquoten - die Symbole reichen nicht. Die europäische Einheit kann von der Irak-Resolution stark profitieren. Auch ihr internationales Gewicht ist nicht unbeträchtlich. Ob sie den Krieg verhindern kann, bleibt abzuwarten. Die Amerikaner betonen, daß sie bereit sind, allein in den Kampf zu ziehen. Doch gibt es ein zwar nicht militärisches, aber diplomatisches Gegengewicht, daß man nicht unterschätzen sollte. Wenn der Sicherheitsrat gegen den Krieg ist, wird es für die Amerikaner schwierig, ihn zu führen.

Max Gallo, Historiker und Schriftsteller, war Regierungssprecher Mitterrands. Er schrieb die Biographie Napoleons, auf der die neue Fernsehadaption seiner Vita beruht.

Peter Schneider.

Realitätsverluste.

Natürlich darf und soll man sich gegen die Anwürfe aus dem Weißen Haus wehren. Wenn den Deutschen und Franzosen jetzt gesagt wird, sie hätten den Realitätssinn verloren, muß man die amerikanische Regierung darauf aufmerksam machen, daß niemand den Realitätssinn gepachtet hat. Schon gar nicht ein Herr Rumsfeld, der den amerikanischen Bürgern weismachen will, die ganze Welt stehe in der Irak-Frage hinter Amerika. Angeblich glaubt inzwischen die Hälfte der amerikanischen Bürger, daß Saddam Hussein der Urheber der Anschläge vom 11. September sei - was auch nicht gerade für den Realitätssinn der Regierungspropaganda und der Medien spricht. Was nun aber die Unterscheidung zwischen dem alten und neuen Europa betrifft, so hat sich Herr Rumsfeld vergaloppiert. Wenn er mit dem Titel "altes Europa" jetzt alle diejenigen anspricht, die gegen einen Alleingang der Vereinigten Staaten sind, dann darf man mehr als die Hälfte der Amerikaner zu den Alteuropäern rechnen. Allerdings hat auch die Bundesregierung einen erheblichen Nachholbedarf in Sachen Realitätssinn. Eine Regierung, die ihren Wählern ständig sagt, sie trete für die unbehinderte Arbeit der Inspektoren im Irak ein, aber für keinerlei Interventionen, gleichgültig, was die Inspektoren auch finden mögen und was die Vereinten Nationen dazu sagen werden, ist nicht ganz von dieser Welt.

Der Schriftsteller Peter Schneider, Jahrgang 1944, lebt in Berlin. Zuletzt erschien von ihm der Band "Die Diktatur der Geschwindigkeit".

Jacques Attali.

Höflich bleiben.

Die europäisch-amerikanischen Beziehungen sind seit mehr als einhundert Jahren nicht in einem so schlechten Zustand gewesen wie heute. Jetzt sollten sich beide Seiten erst einmal beruhigen und aufhören, alles zu sagen, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Damit spielt man bloß den Feinden der Demokratie, die beider Seiten Staatsform ist, in die Hände, woran niemand ein Interesse haben kann. Und wenn einige Amerikaner ihren kühlen Kopf verlieren, dann müssen wir Europäer erst recht doppelt cool bleiben. Schließlich sind sowohl die Diplomatie als auch die Höflichkeit europäische Erfindungen.

Jacques Attali, früher ein enger Berater von François Mitterrand, ist der Autor von "Millennium. Gewinner und Verlierer in der kommenden Weltordnung".

Jochen Gerz.

Not in Our Name.

Die First Nations von Europa, man kann ruhig auch von Eingeborenen sprechen, sind glücklich, mit vielen Stimmen aus ihrer langen, oft blutigen Geschichte hervorgegangen zu sein. Auch Nordamerika hat eine lange Geschichte. Sie ist zu lang, um verschwiegen zu werden. Erst wenn die First Nations von Amerika zu den vielen Stimmen der Vereinigten Staaten von Amerika gehören, kann die Regierung im Namen der Demokratien sprechen und Demokratie fordern. Solange die Eingeborenen des nordamerikanischen Kontinents in Reservaten leben, wird die Regierung in Washington hören, was sie jetzt zu ihren Kriegsplänen gegen den Irak aus allen Teilen des eigenen Landes und der Welt hört: NOT IN OUR NAME.

Der Künstler Jochen Gerz, 1940 in Berlin geboren, lebt seit 1966 in Paris. Unter dem Titel "Verkehrte Zeit" zeigt das Kunstmuseum Liechtenstein gegenwärtig Videos und Installationen von 1969 bis 2002.

Michel Tournier.

Ich bin glücklich.

Ich bin glücklich, daß Frankreich und Deutschland zusammenfinden, um gegen einen amerikanischen Einmarsch im Irak zu protestieren. Man kann diesen Krieg mit keinem Argument rechtfertigen. Ich hoffe nur, daß die deutsch-französische Entente noch weiter gehen wird. Die beiden Länder müßten jetzt eine Armee-Einheit in den Irak schicken, um das Volk zu schützen und gegen die amerikanische Aggression zu verteidigen.

Der Schriftsteller Michel Tournier, Jahrgang 1924, hat sich in seinem Werk immer wieder mit der deutschen Geschichte und ihrer Bewältigung beschäftigt. Berühmt wurde er mit dem Roman "Der Erlkönig".

Adolf Muschg.

Ein zu hoher Preis.

Das "alte Europa", dem Rumsfeld seine Zensur erteilt, ist endlich ein neues. Frankreich und Deutschland ringen sich zur "Tapferkeit vor dem Freund" durch, dem sie die Befreiung von Hitler verdanken: Damit haben sie sich zu einem langen Gedächtnis, aber nicht zu blinder Gefolgschaft verpflichtet. Der Zweite Weltkrieg war ein Produkt unilateraler Gewaltbereitschaft, vor welcher die Welt nach 1945 sicherer werden sollte. Dafür schloß sich der alte Kontinent zu einer epochalen Friedensgemeinschaft zusammen, dafür wurde jedoch auch das fragile, aber unentbehrliche Instrument der Vereinten Nationen geschaffen. Diese müssen dem neu ausgerufenen Krieg gegen den Terrorismus als verbindliches Kontrollorgan dienen. Ein Krieg im Irak hätte die unabsehbare Destabilisierung einer ganzen Weltregion zur Folge; sie ist ein zu hoher Preis für den Sturz eines lokalen Tyrannen. Dies der Bush-Administration zu signalisieren ist das Gegenteil von Drückebergerei: Es ist ein Dienst, zu dem die Europäer ihre Erfahrung mit dem eigenen Imperialismus verpflichtet. Dessen Folgen sind im Nahen Osten immer noch mit Händen zu greifen, aber mit Waffen sind sie nicht zu beseitigen.

Der Schriftsteller Adolf Muschg, Jahrgang 1934, lebt in Männedorf bei Zürich. Zuletzt erschien die Erzählung "Das gefangene Lächeln".

Jorge Semprun.

Bush ist das Problem.

Ich habe diese Äußerung von Rumsfeld nicht gehört. Hat er dies aber gesagt, dann kann ich nur antworten: Zum Glück stellt Europa ein Problem dar in der Welt. Es vertritt eine Position in der Frage eines Kriegseinsatzes im Irak, die mir besonnen und richtig erscheint. Man könnte die Sache auch umdrehen und sagen: Das Problem ist Bush selbst. Solange Europa versucht, einen ungerechten und überdies unsinnigen Krieg zu verhindern, ist es, ob alt oder jung, an seinem rechten Platz.

Der spanische Autor Jorge Semprun, geboren 1923, lebt in Paris. Zuletzt veröffentlichte der Buchenwald-Überlebende den Roman "Der Tote mit meinem Namen".

Thomas Hettche.

Der Ernstfall.

"Kriegsdiplomatie" überschreibt "Spiegel-Online" jenen Text, der Donald Rumsfelds Kommentar zur französisch-deutschen Irak-Position zitiert. Das Etikett verkennt genauso wie die alleinige Fixierung auf den von uns allen halluzinierten Krieg, daß in diesem Konflikt - gerade in der lähmenden Ausweglosigkeit des militärischen, medialen und diplomatischen Aufmarsches - nicht weniger als eine neue, unilaterale Ordnung der Welt erprobt wird. Das ist nicht einfach amerikanische Interessenpolitik neuen Stils, das ist vor allem der Ernstfall für das Völkerrecht - und damit für die Vereinten Nationen. Beides aber, UN wie Völkerrecht, sind Ideen des alten Europa, die es nun (wieder einmal) mit aller Macht gegen die Barbarei zu verteidigen gilt.

Der Schriftsteller Thomas Hettche, geboren 1964, veröffentlichte zuletzt den Roman "Der Fall Arbogast".

Régis Debray.

Nicht mehr mitlaufen.

Ich war gegen den Golfkrieg und auch gegen das Eingreifen im Kosovo; da waren die Europäer willenlose Mitläufer im Fahrwasser der Vereinigten Staaten und unterstellten sich ihrer Führung. Das Zusammengehen von Deutschland und Frankreich gegen Amerika und ihre entschiedene Ablehnung des Kriegs erfreuen mich und erfüllen mich mit großer Hoffnung. Für Europa ist das sehr wichtig. Ich bin dem Euro und der europäischen Vereinigung stets skeptisch gegenübergestanden - jetzt bekommt Europa eine politische, eine außenpolitische Dimension, von der man sich einiges versprechen kann.

Régis Debray kämpfte an der Seite von Che Guevara in Bolivien. Er war außenpolitischer Berater Mitterrands im Elysee. Sein jüngtes Buch ist Gott gewidmet: "Dieu, un itinéraire".

Robert Menasse.

Amerika ist alt.

Verteidigungsminister Rumsfeld verteidigt eine Politik, die gar nicht erst versucht, der Welt gerecht zu werden, sondern selbstgerecht die eigenen nationalen Interessen der Welt plausibel machen will. Die Vereinigten Staaten haben sich immer wieder, vor allem in der technischen und technologischen Entwicklung, als Avantgarde erwiesen, nun sind sie auch geistesgeschichtlich, zumindest in der Theorie des Kriegs, auffällig geworden: Bushs Gesetz - "Führe Kriege nur noch gegen Länder, die den Krieg anschließend auch bezahlen können" - ist die erste Innovation in diesem Gebiet seit Clausewitz. So avantgardistisch dieser Gedanke theorieimmanent auch ist - er ist doch nur ein Reflex auf strukturelle Rückständigkeit der Vereinigten Staaten gegenüber Europa: Die europäische Politik ist bereits nachnational, während die Vereinigten Staaten Politik noch immer nur als nationale Interessenpolitik begreifen können. Die europäische Politik ist nach den Erfahrungen der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu Recht den Weg der Friedenspolitik gegangen, während die Vereinigten Staaten trotz ihrer Erfahrungen in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts immer noch auf militärische Eroberung und Absicherung ihrer Märkte setzten. Amerika mag in der technologischen Entwicklung Vorreiter und daher in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums Europa voraus sein, in der Frage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums aber ist es im Vergleich zu Europa ein abgeschlagener Nachzügler.

Robert Menasse lebt als Autor in Wien. Zuletzt veröffentlichte er den Roman "Die Vertreibung aus der Hölle".