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Enfantin und die amerikanischen Sozialisten

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wilson
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4. Ursprünge des Sozialismus: Enfantin und die amerikanischen Sozialisten


Die besondere Verbindung von persönlichen Qualitäten, die wir bei Saint-Simon, Fourier und Owen finden, ist etwas für ihre Zeit Charakteristisches. Ihr Gegenstück in der eigentlichen Literatur ist Owens Freund Shelley. Alle zeichneten sich in ihrer Lebensführung durch eine reine philosophische Exzentrizität aus, durch eine selten gewordene Rhetorik, die heute inspiriert erscheint, und durch grundlegende soziale Erkenntnisse, die von höchstem Wert bleiben sollten.


Wir haben an solchen späteren französischen Historikern wie Mi-chelet, Renan und Taine gesehen, wie diese Rhetorik allmählich mehr auf Wirkung bedacht ist und in verselbständigten Abstraktionen erstarren sollte. Das industriell-kommerzielle System, dessen Tendenzen den früheren Propheten so offensichtlich unmenschlich und unpraktisch erschienen waren, daß es ganz leicht war, sie in Grenzen zu halten und abzubiegen, breitete sich allmählich überallhin aus. Es absorbiert und demoralisiert seine Kritiker. Die Zukunft war nicht mehr ein unerobertes Gebiet, das noch Männer wie Fourier und Owen als freies Feld für soziale Experimente betrachten konnten. Die Bourgeoisie war nun einmal da, und der typische Sozialkritiker war der viel respektierte Professor, dem die Einblicke

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eines Saint-Simon, Fourier und Owen so fremd waren wie deren phantastisches Verhalten. War er ein brillanter Professor, so konnte er seine Zuhörerschaft dadurch erbauen, daß er groß geschriebene Ideale, wie Taines Gewissen und Ehre, feierte. Indem sie immer mehr auf der Freiheit des einzelnen bestanden, verloren diese Denker alle Kühnheit. Es ist eigentümlich, zum Beispiel, die persönliche Rücksichtslosigkeit eines Saint-Simon, der glaubte, die Rechte des einzelnen sollten im Interesse des Gemeinwesens begrenzt werden, mit der persönlichen Furchtsamkeit eines Taine zu vergleichen, der darauf bestand, daß das individuelle Gewissen und die private Führung der Industrie frei von der Einmischung durch den Staat sein sollten.


In diesem Zusammenhang ist das Versagen der Doktrin Samt-Simons in den Händen seiner Schüler nach seinem Tode interessant. Saint-Simon war, wie ich dargelegt habe, allmählich zu dem Glauben gekommen, daß die neue Gesellschaft nie ohne die Hilfe einer neuen Religion ins Leben gerufen werden könnte, und er versicherte, daß er »im Namen Gottes« sprach. Einer seiner Schüler, Olinde Ro-driques, ein junger Jude, der an seinem Sterbebett gestanden war und seine letzten Worte über die Religion angehört hatte, übernahm die Rolle eines geweihten Apostels, und schon begann ein Saint-Simonisten-Kult zu entstehen.


Allerdings nicht Rodriques, sondern ein französischer Ingenieur, Prosper Enfantin, wurde schließlich zum Heiligen dieses Kultes. 1825, im Todesjahr von Saint-Simon, begannen die Saint-Simoni-sten, indem sie eine Zeitung herausbrachten, die darauf abzielte, die Arbeiterklasse für ein Programm des Kollektivismus, des Internationalismus, der Abschaffung des Privateigentums und der Zölle zu rekrutieren, die Idee der Versklavung und Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die besitzende Klasse ist in ihren Schriften schon voll entwickelt. Aber allmählich ließ sich Enfantin überreden, sich selbst als Messias zu betrachten, er und ein anderer Schüler wurden die »Väter« der Saint-Simonisten-»Familie«. Eines Morgens um halb sieben Uhr, bevor Enfantin aufstand, erhielt er Besuch von einem Manne namens d'Eichthal, einem Mitglied der Bruderschaft, auch einem Juden. D'Eichthal war in einem Zustand der äußersten Erregung, er war am Abend zuvor zur Kommunion in Notre-Dame gewesen, und dort war ihm plötzlich enthüllt worden, »daß Jesus in Enfantin lebt« und daß Enfantin zu einem heiligen Paar, dem Sohn und der Tochter Gottes gehöre, die der Menschheit ein neues Evangelium übermitteln sollen. Zunächst war Enfantin vorsichtig, bis zur Erscheinung des weiblichen Messias, so sagte er d'Eichthal, könnte er sich nicht ernennen und auch nicht ernannt werden. Er bat seinen Apostel, sich in der Zwischenzeit wieder zu Bett legen zu dürfen. Also ließ ihn d'Eichthal allein, kehrte aber kurz darauf zurück, weckte Enfantin und bestand darauf, daß die Stunde geschlagen habe, daß Enfantin sich zum Sohn Gottes proklamieren sollte. Enfantin stand nun auf, zog still seine Strümpfe über und erklärte, »Homo sum!« (ich bin ein Mensch! - d. Übers.).


Später wurde Enfantin als »Christus« und »Papst« bekannt. Die Saint-Simonisten trugen eine besondere Kleidung und arbeiteten religiöse Riten aus. Enfantin ließ sich in offenkundiger Nachahmung Jesu einen Bart stehen und stellte den Titel Le pere, eingestickt auf seinem Hemd über der Brust, zur Schau.


In Paris wurden die Saint-Simonisten durch die Behörden verfolgt, die ihre Versammlungshalle schlössen. Enfantin zog sich mit vierzig Schülern nach Ménilmontant, nicht weit außerhalb der Stadt, zurück, wo er eine Art Kloster gründete. Sie trugen rote, weiße und violette Kleidung und verrichteten alle ihre eigene Arbeit. »Wenn das Proletariat unsere Hände ergreift«, sagten sie, »wird es fühlen, daß sie genau wie seine eigenen gebunden sind. Wir impfen uns die proletarische Natur ein.«


Aber jetzt - es war die Zeit Louis-Philippes - wurde gegen sie vorgebracht, sie predigten Doktrinen, die der öffentlichen Moral gefährlich seien. Le Pere Enfantin wurde gezwungen, eine kurze Strafe im Gefängnis abzusitzen, was seine Moral als Messias brach. Er hatte nicht das Format des wahren Fanatikers, das Leistungsvermögen der Mrs. Eddy oder des Joseph Smith, um sich selbst und andere zu täuschen: er hatte dauernd auf den weiblichen Messias gewartet, der endlich die Welt an ihn und ihn an sich selbst glauben lassen sollte. Und jetzt kehrte er zu seinem Handwerk zurück, zum praktischen Gebiet des Ingenieurberufs. Saint-Simon war von der künftigen Bedeutung des Ingenieurwesens überzeugt gewesen und hatte die Ingenieure zu den Gruppen gezählt, denen man die oberste Kontrolle der Gesellschaft anvertrauen sollte. Zur Zeit seines Besuches in Amerika hatte er sich bemüht, den mexikanischen Vizekönig für das Projekt zu interessieren, einen Kanal durch die Landschaft von Panama zu graben. Und während einer Reise nach Ägypten tat Enfantin sein Bestes, den ihm vernünftig erscheinenden Gedanken, bei Sues einen Kanal zu bauen, voranzutreiben - ein Dienst, für den er, sobald der Kanalbau in Angriff genommen wurde, nur eine knappe Anerkennung von de Lesseps erntete. Schließlich wurde er Direktor der Eisenbahn Paris-Lyon und spielte 1852 beim Ausbau dieser Bahn zur Strecke Paris-Lyon-Mittelmeer die Hauptrolle.


In Prosper Enfantin hatte also das Evangelium Saint-Simons einen der bizarrsten, einen der auffällig unzusammenhängenden Lebenswege der Geschichte hervorgebracht. Nach dem Anfang als Sohn Gottes hatte er als recht fähiger Eisenbahndirektor geendet. Dennoch war Enfantins Religion und seine Arbeit für die Eisenbahn beide durch die Lehre Saint-Simons gerechtfertigt: denn die neue, schnelle Beförderung war ein Mittel, Menschen zusammenzubringen. Das Herstellen einer Verbindung war ein Schritt zur Vereinigung. Aber


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die Schwierigkeit für Enfantin lag darin, daß er einerseits viel zu starrköpfig, zu rational, zu französisch war, um sich von der Gesellschaft loszusagen und sich mit Gott zu identifizieren, wie es der Heilige tut, und andererseits schien es, wie die Dinge lagen, keinen Weg für einen praktischen Ingenieur, den Hersteller von Bahnverbindungen zu geben, seine Tätigkeit mit der Religion der Menschlichkeit in Zusammenhang zu bringen.


Keiner dieser politischen Idealisten verstand die wirkliche Mechanik des sozialen Wandels, auch konnten sie die unausweichliche Entwicklung des Systems nicht voraussehen, das sie so sehr verabscheuten. Sie konnten nur Systeme erdenken, die so antithetisch wie möglich der Wirklichkeit gegenüberstanden, und Modelle davon entwerfen, in der Annahme, daß das Beispiel übertragbar wäre. Diese Bedeutung hatte das Wort Sozialismus, als es erstmalig 1835 in Frankreich und England in Umlauf kam.


Aber erst die Vereinigten Staaten mit ihrem neuen sozialen Optimismus und ihren riesengroßen ungenutzten Räumen sollten das große Exerzierfeld für diese Experimente werden. Die Trennung zwischen der arbeitenden und der besitzenden Klasse mit der daraus folgenden Organisierung der gewerkschaftlichen Bewegung war in der amerikanischen Republik bis 1825 schon ziemlich klar vollzogen. Einwanderer, die dem Hunger und den furchtbaren Zuständen in Europa entflohen waren, fanden in den übervölkerten amerikanischen Städten neues Elend und abermals harte Lehrmeister. Die sozialistische Bewegung lockerte die Zusammenballung, wie sie auch die desillusionierten politischen Denker wiedererweckte.


Wir haben gesehen, daß Robert Owen 1824 nach Amerika kam und eine Owensche Bewegung ins Leben rief: es gab mindestens ein Dutzend Owensche Gemeinwesen, und Albert Brisbane, der den Fourierismus von Paris zurückgebracht und durch Horace Greeley ein Sprachrohr in »The New York Tribüne« erhalten hatte, machte in den 1840er Jahren mit solchem Erfolg Propaganda dafür, daß mehr als vierzig Gruppen hinausgingen, um fourieristische Wohnbezirke zu bauen (die Brook Farm in deren zweiter Phase eingeschlossen). Diese Bewegung begann zur gleichen Zeit wie die große Welle der religiösen Wiedererweckung, war an verschiedenen Punkten mit Transzendentalismus, Swedenborgianismus, Perfektionismus und Spiritualismus verquickt und dauerte die ersten Jahre des fünften Jahrzehnts hindurch an, bis die Agitation für freie Farmen im Westen, die im Homestead-Gesetz von 1863 ihren Höhepunkt fand, die Aufmerksamkeit der Unzufriedenen von der gewerkschaftlichen Arbeitsorganisation und dem Sozialismus ablenkte. Es ist schwer, die Anzahl sozialistischer Gemeinwesen einigermaßen genau zu schätzen, aber es gibt Berichte von mindestens 178 - einschließlich der religiösen Gemeinwesen, die den Kommunismus praktizierten -, mit einer Mitgliederzahl zwischen 15 und 900, und Morris Hillquit nimmt in seiner 'Geschichte des amerikanischen Sozialismus' an, daß es viel mehr davon gab und daß sie insgesamt »Hunderttausende von Mitgliedern« umfaßten. Die owenistischen und fourieristischen Gemeinwesen allein sollen über etwa 20 000 Hektar verfügt haben. Es gab sektiererische Gemeinwesen, Kommunen, die lediglich christlich waren, und Kommunen, die voll von Deisten und Ungläubigen waren. Es gab Kommunen, die auf völlige Enthaltsamkeit bestanden, und andere, die die »freie Liebe« praktizierten, es gab auch Kommunen, die sich dem vegetarischen Leben verschrieben. Einige strebten nach dem reinen Kommunismus in Eigenrum und Gewinn, und einige - insbesondere die fourieristischen Phalangen - waren als Aktiengesellschaften organisiert. Einige, die Geldwirtschaft ganz ablehnten, verließen sich auf den Warenaustausch mit der Umwelt, wieder andere ließen sich auf die Erschaffung ganzer Industrien und die Entfaltung eines regen Handels ein. Eine Anhängerin Owens, Frances Wright, von Geburt Schottin, gründete ein Gemeinwesen am Wolf-Fluß in Tennessee, das das Negerproblem lösen wollte: es bestand zum Teil aus Sklaven, die sie von den Herren losgebeten oder freigekauft hatte und die von weißen Mitgliedern erzogen und in Freiheit gesetzt werden sollten.


Eine eigenartige und sehr amerikanische Erscheinung war eine antikommunistische Kommune. Ein Mann namens Josiah Warren, der am Owenschen Gemeinwesen New Harmony beteiligt war und zu dem Schluß kam, daß dessen Fehlschlag auf die Idee der »Vereinigung« selbst zurückzuführen sei, entwickelte eine Doktrin der Souveränität des einzelnen und ein Programm des gerechten Handels. Zunächst wanderte er in Ohio und Indiana umher und eröffnete eine ganze Anzahl von »Zeitgeschäften«, in denen der Kunde die Großverkaufskosten seines Einkaufs zuzüglich eines kleinen Prozentsatzes für die Ladenunterhaltung in bar, hingegen die Zeit, die Mr. Warren für das Geschäft aufgewendet hatte, mit einem »Arbeitsgeldschein« bezahlte. Er gab diesen Gedanken an Robert Owen weiter, der in London ein Arbeitszeitgeschäft dieser Art in großem Umfange versuchte. Später gründete Warren in Long Island das »Dorf der modernen Zeit«, das der Souveränität des einzelnen in Eigentum, Beruf und Geschmack zur Geltung verhelfen sollte. Wie Warren ankündigte, sollte es »keine Organisation, keine delegierten Zuständigkeiten, keine Verfassungen, keine Gesetze oder Statuten« geben, keine »Regeln oder Regulierungen außer denen, die jeder einzelne für sich selbst und sein eigenes Geschäft aufstellt, keine Beamten, keine Propheten und auch keine Priester«. Wenn man Versammlungen abhielt, galten sie nicht dem Zweck, sich auf einen gemeinsamen Plan zu einigen, sondern einfach »der geselligen Unterhaltung«, der Musik, dem Tanz oder »einem anderen angenehmen Zeitvertreib«. »Nicht eine einzige Vorlesung über die Grundsätze, die unser Han-


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dein leiten«, sei je »auf diesem Grund und Boden gehalten worden. Es war nicht nötig, denn, wie eine Dame bemerkte, >sobald das Thema umrissen und verstanden worden ist, gibt es nichts, worüber zu sprechen wäre: was dann noch kommt, ist praktisches Handelns« Das »Dorf der modernen Zeit« brachte schließlich Henry Edger hervor, einen der zehn Apostel, die August Comte - ein Schüler Saint-Simons - zum Prediger der von ihm als Positivismus bezeichneten wissenschaftlichen Religion ernannte, ferner einen Mann namens Stephen Pearl Andrews, der ein System der »Universologie« sowie eine geistige und geistliche Hierarchie, genannt die »Pantarchie«, entwickelte. Schließlich rief ein gewisser Dr. Thomas L. Nichols, Autor einer »esoterischen Anthropologie«, die Bewegung der freien Liebe ins Leben, indem er eine Liste mit Namen von Personen herausbrachte, die über die ganzen Vereinigten Staaten verteilt waren und »Verwandtschaften« suchten oder wünschten - er endete als römischer Katholik.


»Als ich mich in den ehrwürdigen Obstgarten setzte«, sagte ein Besucher der Trumbull Phalange in der Grafschaft Trumbull, Ohio, im August 1844, »mit den vorläufigen Wohnquartieren auf der gegenüberliegenden Seite, den Zimmerleuten an ihren Bänken in den offenen Werkstätten unter den grünen Zweigen, und als ich auf jeder Seite die Geräusche der Arbeit, das Rollen der Räder in den Werken und viele Stimmen hörte, konnte ich nicht umhin, in Gedanken auszurufen: in der Tat, meine Augen sehen Menschen, die sich beeilen, die Sklaven aller Namen, Nationen und Zungen zu befreien, und meine Ohren hören, wie sie dicke und feste Nägel in den Sarg des Despotismus treiben. Ich kann auf die Gründung dieser Phalange nur als auf einen Schritt blicken, der genausoviel Bedeutung hat wie jeder andere, der unsere politische Unabhängigkeit gewährleistete, und er ist viel größer als jener, der zur Entstehung der Magna Charta, der Grundlage der englischen Freiheit, führte.«


Mit ihren Sägemühlen und Mehlmühlen und ihrer Ausbreitung auf jungfräulichem Boden, mit ihren gemeinsamen Schlaf- und Eß-sälen brachten diese Leute es zu einigen wirklich anregenden harmonischen und produktiven Jahren, aber sie säten noch mehr Streit und ernteten armselig wirkende Fehlschläge. Einige wenige dieser Gemeinwesen überdauerten mehr als ein Jahrzehnt, sehr viele allerdings bestanden nicht einmal zwei Jahre. Gegen ihre Bemühungen standen die Konfliktstoffe im eigenen Kreise und der Druck der öffentlichen Meinung von außen, das Unvermögen von Gruppen aus den unteren Klassen, sozialistischen Idealen entsprechend zu leben, und die Unfähigkeit von Mitgliedern der Oberklassen, sich an Handarbeit zu gewöhnen. Unglücksfälle aller Art verfolgten sie: Brände und Typhusepidemien. Zuweilen trat ein Bach auf sumpfigem Grund über die Ufer, und alle lagen mit Fieber und Malaria darnieder. Sie pflegten sich durch die Aussicht auf Land täuschen zu lassen, das sie, ohne ein Urteil über seine Qualität zu besitzen, erworben hatten, während Schnee lag. Meist fingen sie mit unzureichender Ausrüstung oder ohne ausreichende Vorräte an und kamen nie mit ihnen aus, oder die Schuldenlast wurde immer drückender und machte alles zunichte. Wegen der Besitztitel auf ihr Land gerieten sie in rechtliche Schwierigkeiten. Da sie geschäftsuntüchtig waren, herrschte gewöhnlich ein Durcheinander in ihren Konten. Die Bigotterie der Frommen und die Eifersüchteleien der Frauen taten ein übriges, sie zu zersplittern. Wie ein Mitglied der Marlboro-Vereinigung in Ohio sagte, »fehlte ihnen der Glaube an jene, die Geld hatten, und die den Glauben hatten, besaßen kein Geld«, außerdem litten sie dadurch Not, daß »sie die Bedürftigen, die Hilflosen und die Kranken aufnahmen«. Gewöhnlich endete alles bei scharfen Rechtsstreitigkeiten, die bestimmte Mitglieder gegen die Vereinigung angestrengt hatten, oder falls sie tatsächlich in der Lage gewesen waren, den Wert ihres Besitzes zu steigern, gab es meist bestimmte Mitglieder, die der Versuchung, zu spekulieren und das Gemeinwesen auszukaufen, nicht widerstehen konnten.


Länger ist die Geschichte der Ikarier. Etienne Cabet war Sohn eines Böttchers, dem die Französische Revolution die Laufbahn eines Juristen eröffnet und den Weg ins politische Leben geebnet hatte. Die Treue, mit der er zu den revolutionären Grundsätzen stand, ließ ihn unter der bourbonischen Restauration und unter Louis-Philippe verdächtig und unbequem erscheinen, und da er sich auf uninteressante Posten in der Provinz versetzt, wegen seiner Opposition in der Kammer verfolgt und schließlich vor die Wahl zwischen Gefangenschaft und Exil gestellt sah, wurde er immer mehr der äußersten Linken zugetrieben, die noch immer vom alten Buonarotti, dem Großneffen Michel Angelos und Waffenkameraden Babeufs, repräsentiert wurde. Während seines Exils in England schrieb Cabet einen Roman unter dem Titel >Voyage en Ikarie<, der eine Utopie auf einer kommunistischen Insel beschrieb, wo die Einwohner sich einer progressiven Einkommensteuer, der Abschaffung des Erbrechts, staatlicher Lohnkontrolle, nationaler Werkstätten, öffentlicher Erziehung, einer eugenischen Ehekontrolle und einer einzigen Zeitung unter Zensur der Regierung erfreuten.


Dieser Roman hatte während der Regierungszeit Louis-Philippes eine so gewaltige Wirkung auf die französische Arbeiterklasse, daß Cabet bis 1847 eine Gefolgschaft, die verschiedentlich auf zwei- bis Vierhunderttausend geschätzt wurde, um sich scharen konnte. Seine Schüler waren bestrebt, den Ikarianismus in die Praxis umzusetzen, und Cabet veröffentlichte ein Manifest: >Allons en Icarie!< (Auf nach Ikarien! - d. Übers.). Ikarien sollte in Amerika liegen: Cabet hatte sich davon überzeugen lassen, daß Europa jetzt nicht einmal mehr durch eine Revolution gerettet werden könnte. Er hatte sich mit


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Robert Owen beraten, der den eben erst in die Vereinigten Staaten aufgenommenen und an Bevölkerung armen Staat Texas empfohlen hatte. So unterzeichnete Cabet einen Vertrag mit einer amerikanischen Gesellschaft über - wie er annahm - etwa 400 000 Hektar. Als die erste Gruppe von 69 Ikariern am Pier von Le Havre vor der Schiffsabfahrt ihre »Gesellschaftsverträge« unterschrieb, durch die sie sich dem Kommunismus verpflichteten, erklärte Cabet, daß er »angesichts solcher Männer, einer solchen Vorhut« nicht »an der Regeneration der menschlichen Rasse zweifeln« könne. Aber als die Ikarier im März 1848 in New Orleans ankamen, entdeckten sie, daß die Amerikaner sie betrogen hatten: ihre Domäne lag, statt den Roten Fluß zu berühren, etwa 400 Kilometer landeinwärts inmitten einer nicht erforschten Wildnis, und nur 4000 Hektar - alle verstreut, statt ein einziges Stück zu bilden - gehörten ihnen. Sie kamen dennoch ans Ziel, mit Ochsengespannen. Alle erkrankten an Malaria, und der Arzt wurde wahnsinnig.


Cabet und andere Einwanderer schlössen sich ihnen später an, und nach schrecklichen Leiden und Strapazen ließen sie sich erfolgreich bei Nauvoo, Illinois, nieder, das kurz zuvor von den Mormonen aufgegeben worden war (diese selbst waren in ihrer Utah-Phase, bis zum Tode Brigham Youngs ein Beispiel für ein erfolgreiches genossenschaftliches Gemeinwesen).


Obgleich sich die Ikarier erst gegen Ende des Jahrhunderts auflösten, war die Zeit ihres bescheidenen Wohlstandes knapp bemessen. Trotz aller Anstrengungen schienen sie nie vorwärtszukommen, sie waren von dem Gelde abhängig, das aus Frankreich geschickt wurde, und nach der Revolution von 1848 mit der Zusage der Eröffnung von nationalen Werkstätten ließ die Begeisterung für den Ikarismus nach - so daß sie ständig mit großen Schulden dasaßen. Sie kultivierten das Land ein wenig und versuchten zu produzieren, was sie brauchten. Es scheint Jahrzehnte gedauert zu haben, bis sie Englisch lernten. Sie veranstalteten ständig politische Versammlungen, auf denen sie nicht enden wollende französische Reden hielten. Immer wieder kam es zu Spaltungen und Zerwürfnissen. Bei diesen Meinungsverschiedenheiten stand vor allem der Konflikt zwischen den amerikanischen Pionierinstinkten und der Grundsätzlichkeit französischer Doktrinäre zur Debatte. Cabet hatte mit seinem vom achtzehnten Jahrhundert geprägten Denken ein von ihm selbst für vollkommen gehaltenes System geschaffen, das sich den Menschen dadurch empfehlen wollte, daß es versprach, sie glücklich zu machen. In seinem utopischen Roman gab es einen Präsidenten und ein parlamentarisches System, das Elemente des französischen Revolutionskonvents und der amerikanischen Verfassung vereinte; sobald er aber erst einmal in einem regelrechten Gemeinwesen festen Fuß gefaßt hatte, fühlte er sich gezwungen, sich zum Diktator zu machen. Er scheint nichts von der geistigen Überlegenheit eines Robert Owen oder eines Noyes besessen zu haben. Er war der bürgerlichste aller kommunistischen Führer. Er hatte keine wahre Vorstellung von den Möglichkeiten der Landwirtschaft oder der Industrie und führte das Gemeinwesen nach den kleinlichen Maßstäben französischer Haushaltsführung, untersagte den Mitgliedern Tabak und Whisky, mischte sich in ihre privaten Angelegenheiten und untergrub die Stimmung, indem er die Mitglieder ermutigte, einander auszuspionieren. Schließlich wurde er so sehr zum Tyrannen, daß man vor seinem Fenster die »Marseillaise« sang und ihm in offener Versammlung trotzte: »Sind wir fast fünftausend Kilometer gereist, um unfrei zu sein?« 1856 überstimmte und vertrieb ihn eine Mehrheit, und unmittelbar darauf starb der alte Mann in St. Louis.


Eine zweite ikarische Revolution verlief in etwas anderer Richtung. Erregt durch die Arbeiterinternationale und die Pariser Kommune von-1871, lehnten sich die jüngeren Mitglieder gegen die älteren auf, die allmählich die Lebensart gewöhnlicher amerikanischer Farmer angenommen hatten. Sie verlangten gleiche politische Rechte für die Frauen und forderten, daß die kleinen privaten Gärten, die eines der Hauptvergnügen im sonst kargen Leben der alten Leute geworden waren, Gemeingut würden. Eine weitere Abspaltung fand statt, sie endete in Kalifornien und versiegte. Die alten Ikarier - nur noch eine Handvoll war übrig - lösten sich 1895 auf. Sie seien jetzt genau wie jeder andere, sagten sie von sich.


Das bei weitem erfolgreichste Experiment war das Oneida-Gemeinwesen im Staate New York, das 32 Jahre, von 1847 bis 1879, auf der kollektivistischen Ausgangsbasis beharrte, und sein Führer, John Humphrey Noyes, war bei weitem die bemerkenswerteste Persönlichkeit, die die Bewegung in Amerika hervorgebracht hat.


Er kam aus Brattleboro, Vermont (geboren 1811), aus einer Familie von einer gewissen politischen Bedeutung und studierte Theologie an der Universität Yale, begann aber schon früh, einer Irrlehre anzuhängen, die als Perfektionismus bekannt war. Nach der Doktrin der Perfektionisten braucht man nicht erst zu sterben, um erlöst zu werden: Man kann seine Sünden schon in dieser Welt loswerden. Aber ein Besuch in New York, wo er nie zuvor gewesen war, trieb den jungen Noyes in einen Zustand der Panik: er fühlte, daß die Versuchungen des Fleisches ihn zur Schwelle der Hölle hinunterzogen; außerstande, nachts zu schlafen, pflegte er durch die Straßen zu laufen, in die Freudenhäuser zu gehen und den Insassen augenblickliche Erlösung zu predigen. Anders als die übrigen Sozialisten seiner Epoche (Joseph Smith ist sein religiöses Gegenstück), befaßte er sich von Grund aus mit den Problemen der Geschlechtlichkeit und entwickelte in dem Gemeinwesen, das er später gründete, eine Technik des Liebeslebens, die die Gefahr, Kinder zu bekommen, beseitigte und die Liebe auf eine neue allgemeine Grundlage stellte. In einigen


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Fällen wurden auch irreguläre Kinder zugelassen. Beginnend bei den Mitgliedern seiner eigenen Familie, übte Noyes einen so mächtigen Einfluß auf seine Anhänger aus und übte eine so strenge Selbstdisziplin, daß er diese schwierigen Situationen meisterte. So gelang es ihm zu einer eigenen und der ehrwürdigen Vermonter Genugtuung, den Gedanken an geschlechtlichen Genuß von dem Gedanken an Hölle und Sünde zu trennen, so daß er einen irdischen Erlösungszustand daraus machen konnte.


Noyes, der ein Mann von Format war, studierte die anderen Kommunen sorgfältig, in der Absicht, aus deren Erfahrung Nutzen zu ziehen, und schrieb ein wertvolles Buch über sie, eine »Geschichte der amerikanischen Sozialismen. Er kam zu dem Schluß, daß ihre Mißerfolge und die verschieden großen Erfolge auf ganz bestimmte Faktoren zurückzuführen seien. Er sah die Absurdität eines Systems wie das von Fourier, das von abstrakten Grundsätzen ausging und ein ideales Gemeinwesen davon ableitete, ein Gemeinwesen, das im leeren Raum zusammengesetzt wird und dann automatisch zu funktionieren beginnt. Zunächst einmal sei es wichtig, mit Mitgliedern zu beginnen, die einander kennen und vertrauen. Dann sei es wichtig, sich nicht zu weit von den großen Zentren zu entfernen und sich nicht zu stark vom Lande abhängig zu machen, aus dem ein Einkommen viel schwieriger zu gewinnen sei als aus der Industrie. Dann sei es für den führenden Kopf von Bedeutung, in der Kommune zu wohnen'und sie selbst zu leiten: es war Noyes' Meinung, daß »ein Prohibitionszoll« auf »der Einfuhr sozialistischer Theorien liegen sollte«, die nicht von deren Schöpfern selbst ausgearbeitet und niedergeschrieben wurden. »Es ist gewiß grausam, bei breiten Massen einfacher Menschen mit utopischen Projekten Appetit zu wecken; sie haben alles dabei zu verlieren, während die Urheber und Verfechter nichts tun, als schreiben und reden.« Und vor allem reiche weder der Sozialismus noch die Religion allein aus, ein erfolgreiches Gemeinwesen zu schaffen: man brauche beides zusammen, und man brauche - was Noyes den »göttlichen Odem« nennt - eine Inspiration, die stark genug sei, die alte Familieneinheit zu zersetzen und die Mitglieder in dem neuen Organismus, der neuen Heimat des Gemeinwesens wieder zusammenzuführen. Er glaubte, das bedeutsamste praktische Beispiel sei durch die religiöse Kommune der Shaker gegeben worden. Sie hatten sich als erste 1776 bei Watervliet, New York, niedergelassen, das ganze neunzehnte Jahrhundert überdauert, und ihre Gründung hatte floriert - während nach Horace Greeley »Hunderte von Banken und Fabriken und Tausende von Konzernen unter der Leitung gerissener starker Männer bankrott gegangen waren und verfallen sind«. Die Shaker können, wie ich beim Schreiben aus einer Zeitungsnotiz erfahre, noch immer sechs alte Männer, zu ihrer Blütezeit waren es fünftausend Menschen, und eine alte Frau aufweisen. Noyes meinte, die Dauerhaftigkeit der Shaker-Bewegung sei darauf zurückzuführen gewesen, daß sie wie Mormonismus und Christentum in der Lage gewesen sei, einen zweiten großen Führer hervorzubringen, der sie in der Verwirrung im Anschluß an den Tod der Begründerin, der Mutter Anna, zu retten imstande war.


Noyes strebte danach, diese Bedingungen für das Oneida-Gemein-wesen zu schaffen, indem er die volle Verantwortung für alles selbst übernahm, eine in hohem Maße gewinnbringende Fabrik für Stahlfallen und andere erfolgreiche Industriezweige entwickelte (eine von ihnen, Community Plate, besteht noch immer) und den göttlichen Odem der religiösen Bestimmung lebendig erhielt. Er war tatsächlich in der Lage, in einer späteren Phase der Kommune (zwischen 1869 und 1879) ein Zeugungssystem zu verwirklichen, das er die »Stammkultur« nannte und das - in der Absicht, bessere Kinder zu erzeugen - die Auswahl von Partnern und die Verhinderung von Bindungen durch einen Aufseherausschuß vorsah. Noyes selbst, der die sechzig schon überschritten hatte, wurde Vater von neun Kindern. Aber es gelang ihm nicht, die letzte Voraussetzung des Erfolges zu schaffen; er war nicht in der Lage, einen Brigham Young zu finden. In dem Maße, wie er alterte, begann das Oneida-Gemeinwesen mit seinen gefährlichen Belastungen und Strapazen ihm aus den Händen zu gleiten, die Geistlichen erhoben Protest gegen Oneida, und die Kommune war gezwungen, die Mehrehe aufzugeben. Schließlich fiel Oneida, nachdem Noyes es als Ergebnis der Meinungsverschiedenheiten, die aufgekommen waren, hatte verlassen müssen, dem Privateigentum einzelner anheim.


Es ist bemerkenswert, daß Noyes, der tiefer dachte und mehr Erfolg hatte als irgendein anderer frühsozialistischer Führer, nicht in der Lage war, irgendwelche Hoffnungen für die Zukunft zu schöpfen, es sei denn in der sehr wirklichkeitsfernen Vorstellung, daß die erforderliche Verbindung von Sozialismus und Religion vielleicht zur Oberhand kommen könnte, wenn die »örtlichen Kirchen« zum Kommunismus überträten.


Ein paar Wochen, bevor ich dies niederschrieb, las ich im Lokalblatt meines Wohnorts vom Abbruch eines Teils der »Fourieristen-Ansiedlung«, die bei Red Bank, New Jersey, errichtet worden war. Sie gehörte zu den am längsten überlebenden fourieristischen Kommunen, zu der nordamerikanischen Phalange, die an ihrer fourieristischen Form von 1843 bis 1855 festgehalten hatte. Hier leben noch immer Abkömmlinge der ursprünglichen Mitglieder allein in dem urwüchsigen Waldland von New Jersey in demselben alten, mit einer langen Galerie versehenen Gebäude, das unangestrichen und grau nun seit Jahrzehnten dasteht, aber mit einer gewissen Grandeur nach den genauen Vorschriften Fouriers errichtet wurde und sich daher in eigenartiger Weise keiner der Kategorien Villa, Kaserne oder Hotel unterordnen läßt; hier verarbeitet man noch immer To-


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maten in der alten Fabrik, die nach Fouriers Anweisung in einiger Entfernung abseits der Siedlung liegt, von einer Baumallee verborgen. Hierher kamen um die Mitte des letzten Jahrhunderts Greeley, Dana, Channing und Margaret Füller. Hierher wanderten schließlich die Treuen von Brook Farm, und hier fanden die politischen Emigranten aus Frankreich Zuflucht. Hier starb George Arnold, der Dichter, der in dem fourieristischen Gemeinwesen aufwuchs, es schon als junger Bursche zerbrechen sah und in Abständen zu der alten Zufluchtsstätte zurückzukehren pflegte, um unter Geißblatt und beim Zirpen der Grillen seine Gedichte vom epikureischen Müßiggang und von elegischer Resignation zu schreiben; hier wurde auch Alexander Woollcott geboren, der hier jenes gewisse Etwas mitbekam, das ihn veranlaßte, lieber seine Arbeit beim Rundfunk aufzugeben, als sich der Kritik an den Nazis zu enthalten.


Hier in dem großen Gebäudeflügel, der allmählich baulich unsicher geworden war und jetzt abgerissen werden mußte, lag die gemeinsame Halle, wo gegessen wurde, wo man Vorlesungen und Konzerten lauschte und wo man Bankette und Bälle abhielt. Hier deckten die Frauen den Tisch, hier tanzten sie, und sie waren stolz darauf, kurze, nur bis zu den Knien reichende Röcke und Hosen, ähnlich denen der Männer, tragen zu dürfen. Hier war der Mittelpunkt jener kleinen pastoralen Welt, in der sie, wie einer der Fourieristen sagte, »aus dem gegenwärtigen herzlosen Zustand der zivilisierten Gesellschaft, in der Betrug und unbarmherziger Wettbewerb die edelmütiger gesinnten Bürger zu Staub zermahlen«, entweichen wollten, wo sie den Beginn ihres neuen Zeitalters einzuleiten gehofft hatten, und zwar durch ihre feste Entschlossenheit und ihr reines Beispiel menschlicher Brüderlichkeit, geplanter Produktion, glücklicher Arbeit, hoher Kultur - aller jener Dinge, von denen das Leben der Gesellschaft in so seltsamer Weise hinwegzuführen schien.







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